Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
gegenüberliegenden Mauer Farnkraut aus, wo sich einmal ein Blumenbeet befunden hatte. Die Arbeit hatte etwas Vertrautes und Beruhigendes, denn sie erinnerte sie daran, wie sie als Kind die Wochenenden in Paddington verbracht und Nell beim Unkrautjäten geholfen hatte. Hinter ihr hatte sich schon ein ordentlicher Haufen Farnwedel und Wurzelwerk angesammelt, aber allmählich kam sie immer langsamer voran. In dem geheimen Garten fiel es ihr schwer, sich
nicht ablenken zu lassen, denn hier fühlte sie sich wie an einem Ort außerhalb der Zeit. Wahrscheinlich lag das an den hohen Mauern, dachte sie, andererseits war das Gefühl des Eingeschlossenseins eine mehr als nur körperliche Empfindung. Die Geräusche klangen hier anders, die Vögel sangen lauter, und das Laub schien im Wind zu flüstern. Die Gerüche waren intensiver - die feuchte Fruchtbarkeit des Bodens, die süßen Äpfel -, und die Luft war klarer. Je mehr Zeit sie in dem Garten verbrachte, desto mehr gelangte sie zu der Überzeugung, dass sie recht hatte: Dieser Garten schlief nicht, er war im Gegenteil sehr lebendig.
Die Sonne kam wieder hinter den Wolken hervor, warf Lichtstreifen durch die Zweige über ihr, und von einem Baum ganz in der Nähe regnete ein Schauer gelbes Konfettilaub. Als sie die Blätter im goldenen Licht zu Boden rieseln sah, überkam Cassandra ein unwiderstehlicher Drang zu zeichnen, diesen zauberhaften Kontrast zwischen Hell und Dunkel auf dem Papier festzuhalten. Es juckte sie in den Fingern, die Lichtstreifen mit dem Kohlestift nachzuziehen, die Schatten so zu schraffieren, dass die Transparenz sichtbar wurde. Sie konnte an nichts anderes mehr denken.
»Teepause?« Christian rammte seinen Spaten in den Boden, hob den Saum seines T-Shirts an und wischte sich mit einem Zipfel den Schweiß von der Stirn.
»Gute Idee.« Cassandra klopfte sich die behandschuhten Hände an den Jeans ab, um sie von Erdkrumen und Farnstückchen zu befreien, und bemühte sich, nicht auf Christians nackten Bauch zu starren. »Wer ist dran mit Teeaufsetzen?«
»Ich.« An der Stelle in der Mitte des Gartens, die sie freigeräumt hatten, kniete Christian sich vor den Campingkocher und füllte einen kleinen Topf mit Wasser aus seiner Trinkflasche.
Cassandra setzte sich vorsichtig auf die Gartenbank. Nach all der schweren körperlichen Arbeit waren ihre Muskeln steif. Nicht, dass ihr das etwas ausgemacht hätte, im Gegenteil, ihre schmerzenden Glieder verschafften ihr Genugtuung, denn sie
machten ihr ihre Körperlichkeit bewusst. Sie besaß Muskeln, die ihr wehtaten, weil sie zum Einsatz gekommen waren. Sie fühlte sich nicht mehr unsichtbar oder zerbrechlich, sie spürte wieder ihr Gewicht und fürchtete nicht länger, von jedem Windstoß davongetragen zu werden. Abends schlief sie schnell ein, und wenn sie morgens aufwachte, fühlte sie sich frisch und frei von Albträumen.
»Wie geht’s denn mit dem Labyrinth voran?«, fragte sie, nachdem Christian den Topf auf den Campingkocher gestellt hatte. »Drüben beim Hotel?«
»Ganz gut. Mike meint, bis zum Winter müssten wir damit fertig sein.«
»Auch wenn Sie so viel Zeit hier verbringen?«
Christian lächelte. »Wie Sie sich denken können, ist Michael davon nicht gerade begeistert.« Er schüttete die Teereste weg, die noch vom Morgen in den Tassen waren, und hängte in jede einen frischen Beutel.
»Ich hoffe, Sie bekommen keinen Ärger, weil Sie mir helfen?«
»Jetzt fangen Sie bloß nicht an, sich meinen Kopf zu zerbrechen.«
»Ich bin Ihnen wirklich dankbar für alles, was Sie für mich getan haben, Christian.«
»Ach, nicht der Rede wert. Ich habe versprochen, Ihnen zu helfen, und das war ernst gemeint.«
»Das weiß ich und ich bin froh darüber.« Sie zog ihre Handschuhe aus. »Aber ich könnte es verstehen, wenn Sie wichtigere Dinge zu tun hätten.«
»Sie meinen, bei meinem eigentlichen Job?« Er lachte. »Keine Sorge, Michael kommt schon nicht zu kurz.«
Sein eigentlicher Job. Plötzlich war das Thema da, über das Cassandra sich schon den Kopf zerbrochen, das anzusprechen sie bisher jedoch nicht gewagt hatte. Aber irgendwie hatte die Gartenarbeit sie in eine Stimmung versetzt, die sie an Nells direkte
Wesensart erinnerte. Mit dem Absatz zog sie einen Bogen in den Boden. »Christian?«
»Ja?«
»Es gibt etwas«, sagte sie, während sie einen zweiten, spiegelbildlich geformten Bogen zog, »wonach ich Sie schon immer fragen wollte, etwas, das Julia Bennett erwähnt hat.« Einen kurzen
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