Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
meine Brüder recht gehabt hatten, als sie mir erzählten, hier würde es spuken, und ich fürchtete schon, ein Geist oder eine Hexe hätte mich erwischt und würde mich in einen Giftpilz verwandeln.« Seine Lippen verzogen sich zu einem angedeuteten Lächeln, während er ein trockenes Blatt in der Faust zerdrückte und die Krümel auf den Boden streute. »Aber es war kein Geist, sondern eine alte Frau mit einem seltsamen Akzent und einem traurigen Gesicht.«
Cassandra stellte sich Nells Gesicht vor. War es traurig gewesen?
Eindrucksvoll, ja, und eher hart, aber traurig? Sie wusste es nicht, Nells Gesicht war ihr einfach zu vertraut, um das wirklich beurteilen zu können.
»Sie hatte silbergraues Haar«, sagte Christian, »und sie trug es hochgesteckt.«
»Zu einem Knoten.«
Er nickte lächelnd, dann schüttete er den Rest seines Tees weg. Warf das Stöckchen mit den aufgespießten Blättern fort. »Sind Sie dem Geheimnis Ihrer Großmutter inzwischen auf die Spur gekommen?«
Cassandra seufzte. Diesmal brachte Christian sie wirklich ganz durcheinander. Seine Stimmung erinnerte sie an die flimmernden Lichtstreifen, die durch die Ranken fielen, sie war irgendwie nicht greifbar, wechselhaft, sprang von einem Punkt zum anderen. »Eigentlich nicht. In Roses Tagebüchern habe ich nichts Aufschlussreiches finden können.«
»Kein Kapitel mit der Überschrift: ›Warum Eliza eines Tages mein Kind entführen könnte‹?« Er lächelte.
»Leider nicht.«
»Zumindest hatten Sie eine interessante Bettlektüre.«
»Wenn ich nur nicht immer gleich einschlafen würde, sobald mein Kopf auf dem Kissen liegt.«
»Das macht die Meeresluft«, sagte Christian, stand auf und nahm seinen Spaten. »Die tut der Seele gut.«
Ja, den Eindruck hatte Cassandra tatsächlich. Sie stand ebenfalls auf. »Christian«, sagte sie, während sie sich die Handschuhe anzog. »Was diese Tagebücher betrifft.«
»Ja?«
»Ich bin da auf etwas gestoßen, bei dem Sie mir vielleicht weiterhelfen können.«
»Ach?«
Unsicher, weil er dem Thema vorhin ausgewichen war, schaute sie ihn an. »Es geht um etwas Medizinisches.«
»Okay.«
Cassandra atmete aus. »Rose erwähnt irgendwelche Male an ihrem Bauch. Sie müssen ziemlich groß gewesen sein, jedenfalls hat sie sich dafür geschämt, und ganz zu Anfang berichtet sie, dass ihr Arzt Ebenezer Matthews sie mehrmals deswegen aufgesucht hat.«
Christian hob bedauernd die Schultern. »Haut war eigentlich nicht mein Spezialgebiet.«
»Sondern?«
»Onkologie. Macht Rose denn noch irgendwelche näheren Angaben zu den Malen? Farbe, Größe, Art, Anzahl?«
Cassandra schüttelte den Kopf. »Sie beschränkt sich meist auf sehr vage Umschreibungen.«
»Typisch viktorianische Prüderie.« Nachdenklich klopfte er mit dem Spaten auf den Boden. »Es kann sich um alles Mögliche gehandelt haben. Narben, Pigmentstörungen - erwähnt sie etwas von einer Operation?«
»Soweit ich mich erinnere, nicht. Um was für eine Operation könnte es sich denn gehandelt haben?«
Christian hob eine Hand. »Tja, so ad hoc würde ich sagen, es käme eine Blinddarmentfernung infrage oder eine Operation an Nieren oder Lunge.« Er hob die Brauen. »Womöglich litt sie auch an Wasserbläschen. Kann es sein, dass sie sich häufiger in der Nähe von Bauernhöfen aufgehalten hat?«
»Es hat zumindest Bauernhöfe auf dem Anwesen gegeben.«
»Wasserbläschen waren jedenfalls der häufigste Grund für Operationen bei Kindern in der viktorianischen Zeit.«
»Was genau ist das denn?«
»Eine Infektionskrankheit, die durch die Finnen eines Bandwurms ausgelöst wird. Der Parasit befällt normalerweise Hunde, manchmal auch Schafe, kann aber auch auf den Menschen übertragen werden und in verschiedene Organe gelangen, meist in die Nieren oder die Leber, seltener sogar in die Lunge.« Er schaute
sie an. »Es würde passen, aber ich fürchte, wenn Sie nicht mehr Informationen in den Tagebüchern finden, werden Sie es wohl nie erfahren.«
»Ich kann heute Nachmittag noch mal einen Blick hineinwerfen. Vielleicht habe ich ja etwas übersehen.«
»Ich werde auch noch ein bisschen darüber nachdenken.«
»Danke. Aber machen Sie sich nicht zu viel Mühe, es ist wirklich bloß reine Neugier.« Sie zog ihre Handschuhe wieder an und schob die Finger ineinander, damit sie sich dichter anlegten.
Christian stieß den Spaten mehrmals ins Erdreich. »Es war zu viel Tod um mich herum.«
Cassandra schaute ihn fragend an.
»Bei meinem Job. Onkologie.
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