Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
allein.
Seltsame Geräusche wurden durch die Dunkelheit verstärkt. Der Verkehr auf einer fernen Straße, ein Fernseher in einem der Nachbarhäuser, Nells Schritte auf dem Holzboden im Nebenzimmer und das Windspiel draußen vor dem Fenster. Anfangs war es nur ein sanftes Klimpern, aber während Cassandra dort im Dunkeln lag, sich fragte, wo ihre Mum sein mochte, warum sie sie hier in diesem seltsamen Haus zurückgelassen hatte, und sich dabei die ganze Zeit mit der Zunge über ihre pelzigen Zähne fuhr, wurde der Wind stärker. Das Windspiel klimperte immer lauter, und Cassandra stieg der Geruch nach Eukalyptus und Teer in die Nase. Ein Gewitter braute sich zusammen.
Cassandra rollte sich unter ihrer Decke ein. Sie mochte keine Gewitter, da wusste man nie, was auf einen zukam. Hoffentlich zog es einfach vorbei. Sie traf eine Abmachung mit sich selbst: Wenn sie bis zehn zählen konnte, ehe das nächste Auto über den nahe gelegenen Hügel brummte, würde alles gut gehen. Dann würde das Gewitter vorüberziehen, und ihre Mum würde sie in einer Woche wieder abholen.
Eins. Zwei. Drei. … Sie schummelte nicht, sondern zählte in einem gleichmäßigen Rhythmus. … Vier. Fünf. … Alles ruhig bisher. Die Hälfte war geschafft. … Sechs. Sieben. … Sie lauschte angestrengt, aber es war immer noch kein Auto zu hören. Fast in Sicherheit. … Acht -
Plötzlich setzte sie sich auf. Die Reisetasche hatte ein paar kleine Innentaschen. Wahrscheinlich hatte ihre Mum die Zahnbürste
gar nicht vergessen, sondern sie bloß in eine der Innentaschen gesteckt.
Cassandra schlüpfte aus dem Bett. Im selben Augenblick schlug eine heftige Bö das Windspiel gegen die Fensterscheibe. Auf nackten Füßen schlich sie über den Holzboden, der sich überraschend kühl anfühlte, als ein Luftzug durch die Ritzen zwischen den Dielen pfiff.
Am Himmel über dem Haus grollte es bedrohlich, dann wurde es plötzlich ganz hell. Es fühlte sich gefährlich an und erinnerte Cassandra an das Gewitter in dem Märchen, das sie am Nachmittag gelesen hatte, an den Sturm, der der kleinen Prinzessin zu der Hütte des alten Weibleins gefolgt war.
Cassandra kniete sich auf den Boden und durchsuchte die Seitentaschen eine nach der anderen in der Hoffnung, die Zahnbürste zu ertasten.
Dicke, fette Regentropfen begannen auf das Wellblechdach zu prasseln, anfangs nur vereinzelt, doch dann wurden es so viele, dass ein ohrenbetäubendes Rauschen alle anderen Geräusche übertönte.
Wo sie schon einmal dabei war, konnte es nicht schaden, alle Fächer der Tasche gründlich zu durchsuchen. Eine Zahnbürste war immerhin ein ziemlich kleiner Gegenstand, vielleicht steckte sie so tief unter den anderen Sachen, dass sie sie beim ersten Mal übersehen hatte. Sie schob ihre Hände tief in die Tasche hinein und nahm schließlich, um ganz sicherzugehen, alle Sachen heraus. Die Zahnbürste war nicht da.
Cassandra hielt sich die Ohren zu, als ein weiterer Donnerschlag das Haus erschütterte. Dann stand sie auf, umschlang sich mit den Armen, spürte flüchtig, wie dünn und klein sie war, eilte zurück zum Bett und kroch unter die Decke.
Regen trommelte aufs Dach, lief in Strömen an den Fenstern entlang und sprudelte aus den schiefen Dachrinnen, die solchen Wassermassen nicht gewachsen waren.
Cassandra lag reglos unter ihrer Decke, die Arme immer noch um den Körper geschlungen. Trotz der warmen, schwülen Luft hatte sie eine Gänsehaut. Eigentlich sollte sie schlafen, denn wenn sie nicht schlief, würde sie am nächsten Morgen völlig übermüdet sein, und niemand hatte Lust, sich mit schlecht gelaunten kleinen Mädchen abzugeben.
Aber sosehr sie sich auch bemühte, sie fand keinen Schlaf. Sie zählte Schäfchen, sang in Gedanken Lieder von gelben U-Booten und Orangen und Zitronen und Gärten auf dem Meeresgrund, erzählte sich Märchen. Aber die Nacht schien kein Ende zu nehmen.
Der Regen prasselte, es blitzte und donnerte, und Cassandra begann zu weinen. Lange zurückgehaltene Tränen durften unter dem dunklen Regenschleier endlich vergossen werden.
Wie viel Zeit war vergangen, bis sie die dunkle Gestalt in der Tür wahrnahm? Eine Minute? Zehn?
Cassandra unterdrückte ein Schluchzen, bis ihr der Hals brannte.
Ein Flüstern, Nells Stimme. »Ich wollte nur nachsehen, ob das Fenster zu ist.«
Im Dunkeln hielt Cassandra den Atem an und wischte sich die Augen mit einem Zipfel des Lakens.
Nell stand jetzt dicht am Bett, Cassandra spürte die seltsame
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