Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
Hausarbeit machten. Lil stellte fest, dass es ihr gefiel, sie um sich herum zu haben, dass es ihr Freude bereitete, Nell Dinge zu zeigen, ihr zu erklären, wie sie funktionierten und warum. Nell fragte ihr Löcher in den Bauch, wollte wissen, warum die Sonne nachts verschwand, warum die Flammen des Feuers nicht aus dem Kamin sprangen, warum es dem Fluss nicht langweilig wurde, immer in dieselbe Richtung
zu fließen, und Lil genoss es, ihr all die Fragen zu beantworten und Nells kleines Gesicht zu beobachten, wenn sie etwas begriff. Zum ersten Mal in ihrem Leben kam Lil sich nützlich vor, zum ersten Mal fühlte sie sich gebraucht und heil. Auch mit Hamish verstand sie sich wieder besser. Die Spannungen, die sich in den vergangenen Jahren zwischen ihnen aufgebaut hatten, lösten sich allmählich. Sie hatten aufgehört, so verdammt höflich miteinander umzugehen und sich fast an ihren sorgfältig gewählten Worten zu verschlucken wie zwei Fremde, die man zusammen eingesperrt hat. Sie lachten sogar wieder, entspannt und ungezwungen, so wie früher.
Und Nell hatte sich an das Leben mit Haim und Lil gewöhnt wie ein Entenküken an den Teich, an dem es aus dem Ei geschlüpft ist. Die Kinder in der Nachbarschaft hatten schnell herausgefunden, dass jemand Neues in ihrer Mitte aufgetaucht war, und Nell geriet völlig aus dem Häuschen bei der Aussicht, mit anderen Kindern spielen zu können. Die kleine Beth Reeves von nebenan kam neuerdings fast jeden Tag irgendwann über den Zaun. Lil liebte es, die beiden kleinen Mädchen draußen spielen zu hören. Sie hatte so lange darauf gewartet, sich so darauf gefreut, dass eines Tages im Garten Kinderstimmen erklingen würden.
Und Nell war ein ausgesprochen einfallsreiches Kind. Immer wieder bekam Lil mit, wie sie lange, komplizierte Geschichten erfand. In Nells Fantasie verwandelte sich der große Garten in einen Zauberwald mit Dornengestrüpp und Labyrinthen und mit einem Haus am Rand einer Klippe. Die Orte, die Nell beschrieb, entsprachen denen aus dem Märchenbuch, das sie in Nells weißem Koffer gefunden hatten. Lil und Hamish wechselten sich ab, Nell abends daraus vorzulesen. Anfangs waren die Märchen Lil viel zu Angst einflößend erschienen, aber Haim hatte sie vom Gegenteil überzeugen können. Und Nell schien sich kein bisschen von den Geschichten erschrecken zu lassen.
Vom Küchenfenster aus beobachtete Lil, wie die beiden Mädchen mal wieder eine Szene aus einem der Märchen nachspielten. Beth hörte mit großen Augen zu, während Nell in ihrem weißen Kleid herumflitzte, die roten Zöpfe golden im Sonnenlicht, und sie durch ein imaginäres Labyrinth führte.
Beth würde Nell fehlen, wenn sie nach Brisbane zogen, aber sie würde bestimmt bald neue Freunde finden. So waren Kinder nun mal. Und der Umzug war unumgänglich. Lange konnten Lil und Haim den Leuten nicht mehr erzählen, Nell sei eine Nichte aus dem Norden. Früher oder später würden die Nachbarn anfangen zu fragen, warum Nell nicht wieder nach Hause fuhr. Wie lange sie noch bei ihnen bleiben würde. Nein, für Lil stand fest, dass es sein musste. Sie würden zu dritt einen Neuanfang machen, irgendwo, wo sie niemand kannte. In einer großen Stadt, wo die Leute keine Fragen stellten.
7 Brisbane Australien, 2005
Es war ein Vormittag im Frühling, und Nell war seit über einer Woche tot. Ein frischer Wind wehte durch die Sträucher und wirbelte die Blätter herum, sodass ihre blassen Unterseiten sich der Sonne zuwandten wie Kinder, die unverhofft ins Rampenlicht geraten und hin- und hergerissen sind zwischen Nervosität und Wichtigtuerei.
Cassandras Tee war längst kalt geworden. Nachdem sie einen Schluck getrunken hatte, hatte sie die Tasse auf dem Betonsims abgestellt und dann vergessen. Eine Ameisenkompanie, deren Marschroute durch das Hindernis blockiert wurde, war nun gezwungen, einen Umweg über den Tassenrand und durch den Henkel auf die andere Seite zu nehmen.
Aber Cassandra bemerkte die Ameisen gar nicht. Sie saß auf einem klapprigen Stuhl im Garten neben der alten Waschküche und betrachtete die Rückwand des Hauses. Sie musste unbedingt gestrichen werden. Kaum zu glauben, dass seit dem letzten Mal schon fünf Jahre vergangen waren. Fachleute empfahlen bei einem Holzhaus alle sieben Jahre einen neuen Anstrich, aber Nell hatte sich nie an solche Konventionen gehalten. In all den Jahren, die Cassandra bei ihrer Großmutter gewohnt hatte, war das Haus nicht ein einziges Mal komplett angestrichen
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