Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
verkrampften Schultern deuten, den steifen Hals, ihren angespannten Mund. Er wusste, dass sie litt. Und er wusste auch, dass er nichts dagegen tun konnte. Manche Dinge kann man nicht erzwingen, wie Dr. Huntley immer wieder betonte. Aber das machte es für Lil nicht leichter, und für ihn ebenso wenig.
Sie war zu ihm gekommen und stieß ihn spielerisch mit der Hüfte. Er roch den traurig-lieblichen Duft ihrer Haut. »Geh nur schon, leg dich ins Bett«, sagte sie. »Ich komme gleich nach.« Ihre tapfer zur Schau getragene Heiterkeit ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren, doch er tat, wie ihm geheißen.
Wie versprochen, kam sie kurz nach ihm ins Schlafzimmer. Er schaute ihr zu, wie sie sich von den Spuren des Tages reinigte und sich das Nachthemd über den Kopf zog. Obwohl sie ihm den Rücken zuwandte, sah er, wie sanft sie das Kleidungsstück über ihre Brüste und über ihren immer noch gewölbten Bauch gleiten ließ.
In dem Augenblick drehte sie sich um und merkte, dass er sie anschaute. Statt Verletzlichkeit drückte ihr Gesicht sofort Abwehr aus. »Was ist?«
»Nichts.« Er betrachtete seine Hände, die Schwielen und die Hornhaut, die die jahrelange Arbeit im Hafen ihm beschert hatte. »Ich habe nur über die Kleine da draußen nachgedacht«, sagte
er. »Mich gefragt, wer sie wohl sein mag. Dir hat sie wohl auch nicht gesagt, wie sie heißt, oder?«
»Sie sagt, sie weiß es nicht. Ich frage sie immer wieder, aber sie schaut mich nur mit ernsten Augen an und antwortet, sie kann sich nicht erinnern.«
»Könnte es sein, dass sie uns etwas vormacht? Manche von diesen blinden Passagieren halten einen ganz schön zum Narren.«
»Haim«, schalt Lil. »Sie ist kein blinder Passagier, sie ist doch fast noch ein Baby.«
»Ja, ist schon gut, Liebes. War nur eine Frage.« Er schüttelte den Kopf. »Es fällt mir nur so schwer zu glauben, dass sie so einfach ihren Namen vergessen haben soll.«
»Davon hab ich schon mal gehört, man nennt es Amnesie. Ruth Halfpennys Vater hatte das auch, nachdem er von der Deichsel gefallen war. Durch so etwas wird es ausgelöst, Stürze und Ähnliches.«
»Du meinst, sie ist vielleicht gestürzt?«
»Ich konnte keine blauen Flecken an ihr entdecken, aber möglich wäre es doch, oder?«
»Na ja«, sagte Haim, als ein Blitz das Zimmer erhellte. »Ich werde mich morgen darum kümmern.« Er drehte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. »Zu irgendjemandem muss sie doch gehören«, murmelte er.
»Ja.« Lil löschte das Licht und hüllte sie beide in Dunkelheit. »Irgendjemand macht sich bestimmt fürchterliche Sorgen um sie.« Wie jeden Abend rollte sie sich auf die Seite, wandte Hamish den Rücken zu und schloss ihn von ihrem Kummer aus. Ihre Stimme wurde durch das Laken gedämpft: »Aber ich sage dir, wer auch immer sie vermisst, hat sie nicht verdient. Was für eine verdammte Achtlosigkeit. Wie kann ein Mensch bloß ein Kind verlieren?«
Vom Fenster aus schaute Lil zu, wie die beiden kleinen Mädchen im Garten unter der Wäscheleine hin und her liefen und ausgelassen lachten, wenn die kühlen Laken ihre Gesichter streiften. Sie sangen eins von Nells Liedern. Die Lieder, und sie kannte so viele, waren ihrem Gedächtnis nicht entfallen.
Nell. So nannten sie sie inzwischen, nach Lils Mutter Eleanor. Irgendwie mussten sie sie ja schließlich anreden. Die seltsame Kleine konnte ihnen immer noch nicht ihren Namen sagen. Jedes Mal, wenn Lil sie danach gefragt hatte, hatte sie sie nur mit großen Augen angeschaut und behauptet, sie könne sich nicht erinnern.
Nach ein paar Wochen hatte Lil aufgehört zu fragen. Im Grunde genommen war es ihr sogar ganz recht, den Namen der Kleinen nicht zu kennen. Sie wollte sich Nell mit keinem anderen Namen vorstellen als mit dem, den sie ihr gegeben hatten. Nell. Er passte wirklich gut zu ihr, das sagten alle. Beinahe, als hätte sie ihn schon seit ihrer Geburt.
Sie hatten ihr Bestes getan, um in Erfahrung zu bringen, wer sie war und wohin sie gehörte. Mehr konnte wirklich niemand von ihnen verlangen. Zwar hatte Lil sich anfangs immer wieder gesagt, sie würden sich nur vorübergehend um Nell kümmern, sie nur so lange unter ihren Schutz nehmen, bis jemand sie abholte, aber mit jedem Tag, der verging, gelangte Lil mehr und mehr zu der Überzeugung, dass niemand kommen würde.
Inzwischen hatten sie sich an den Alltag zu dritt gewöhnt. Morgens frühstückten sie gemeinsam, dann ging Hamish zur Arbeit, während Lil und Nell sich an die
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