Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
gab sich mit Leib und Seele hin. Sie ließ sich in das Kaninchenloch fallen und in ein Märchen entführen, las von einer Prinzessin, die zusammen mit einem blinden alten Weiblein in einem Häuschen im finsteren Wald lebte. Sie war eine mutige Prinzessin, viel mutiger, als Cassandra jemals sein würde, eine Prinzessin, die auf der Suche nach einem kostbaren Gegenstand durch Länder reiste und Meere überquerte.
Sie war auf der vorletzten Seite angelangt, als Schritte über ihr sie aufschrecken ließen.
Sie kamen.
Hastig setzte Cassandra sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Sie wollte das Märchen so gern zu Ende lesen, erfahren, was am Ende mit der Prinzessin passierte, ob es ihr gelingen würde, dem blinden Weiblein sein Augenlicht zurückzugeben, und ob sie fortan glücklich und zufrieden leben würde. Aber daraus wurde jetzt leider nichts. Sie glättete die Briefe, legte alles zurück in den kleinen Koffer und schob ihn unters Bett. Beseitigte alle Spuren ihres Ungehorsams.
Leise schlüpfte sie aus dem Souterrain, nahm einen Stein in die Hand und ging wieder zu dem Himmel-und-Hölle-Spiel.
Als Mum und Nell in der Schiebetür erschienen, sah es so aus, als wäre Cassandra den ganzen Nachmittag über in ihr Spiel vertieft gewesen und gar nicht erst auf den Gedanken gekommen, das Souterrain zu betreten.
»Komm her, Kleines«, sagte Lesley.
Cassandra klopfte den Staub von ihren Shorts und ging zu
ihrer Mutter, die ihr zu ihrer Verwunderung einen Arm um die Schultern legte.
»Hast du Spaß gehabt?«
»Ja«, antwortete Cassandra vorsichtig. Waren sie ihr etwa auf die Schliche gekommen?
Aber ihre Mutter war kein bisschen sauer. Im Gegenteil, sie schien regelrecht in Hochstimmung zu sein. Sie schaute Nell an. »Hab ich’s dir nicht gesagt? Sie kann sich wunderbar allein beschäftigen.«
Als Nell nichts darauf erwiderte, fuhr Cassandras Mutter fort: »Du wirst eine Weile bei Grandma Nell bleiben, Cassie. Das wird bestimmt abenteuerlich werden.«
Cassandra war überrascht. Anscheinend hatte ihre Mutter etwas Wichtiges in Brisbane zu erledigen. »Bekomme ich denn hier auch ein Mittagessen?«
Lesley lachte laut auf. »Na, das wollen wir doch hoffen, jeden Tag! Bis ich dich holen komme.«
Plötzlich wurde Cassandra sich der scharfen Kanten an dem Stein bewusst, den sie in der Hand hielt, spürte, wie die Spitzen sich in ihre Fingerkuppen bohrten. Sie schaute erst ihre Mutter, dann ihre Großmutter an. War das ein Spiel? Scherzte ihre Mutter? Sie wartete darauf, dass Lesley in lautes Gelächter ausbrechen würde.
Doch die schaute Cassandra nur mit ihren großen blauen Augen an.
Cassandra wusste nicht, was sie sagen sollte. »Ich hab meinen Schlafanzug nicht dabei«, brachte sie schließlich heraus.
Endlich lächelte ihre Mutter, strahlte sie erleichtert an, und Cassandra spürte, dass es keinen Zweck hatte zu protestieren. »Mach dir darüber keine Gedanken, Dummerchen. Ich hab deine Sachen in einer Tasche im Auto. Du hast doch nicht etwa geglaubt, ich würde dich ohne deine Sachen hierlassen, oder?«
Die ganze Zeit über hatte Nell stumm und steif danebengestanden
und Lesley beobachtet. Cassandra entdeckte Missbilligung in ihrem Blick. Wahrscheinlich wollte ihre Großmutter nicht, dass sie bei ihr blieb. Kleine Mädchen waren einem dauernd im Weg, wie Len immer wieder betonte.
»Hier, Kleines«, sagte Lesley und warf Cassandra ihre Reisetasche hin. »Da ist eine Überraschung für dich drin. Ein neues Kleid. Len hat mir geholfen, es auszusuchen.«
Sie richtete sich auf und sagte zu Nell: »Nur eine oder zwei Wochen, ich versprech’s dir. Bis Len und ich uns wieder zusammengerauft haben.« Lesley zauste Cassandras Haare. »Deine Grandma Nell freut sich darauf, dich bei sich zu haben. Das werden richtig tolle Sommerferien in der großen Stadt. Da wirst du deinen Freundinnen eine Menge zu erzählen haben, wenn die Schule wieder anfängt.«
Cassandras Großmutter lächelte, aber es war kein glückliches Lächeln. Cassandra glaubte zu wissen, wie einem zumute war, wenn man so lächelte. Sie selbst tat es jedes Mal, wenn ihre Mutter ihr versprach, ihr einen Herzenswunsch zu erfüllen, und Cassandra im selben Augenblick wusste, dass es nie dazu kommen würde.
Lesley hauchte ihr einen Kuss auf die Wange, drückte ihr die Hand, und dann war sie plötzlich verschwunden, ehe Cassandra dazu kam, sie zu umarmen, ihr eine gute Fahrt zu wünschen oder sie zu fragen, wann genau sie sie wieder abholen
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