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Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden

Titel: Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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lugten zwei dünne Beine und zwei mit Schuhen bekleidete Füße hervor. Entweder war die Mauer wie im Zauberer von Oz vom Himmel gefallen und hatte einen unglücklichen Zwerg zerquetscht, oder Nell hatte eine kleine Person erwischt, die unbefugt in ihr Haus eingedrungen war.
    Nell packte ein Fußgelenk. Die Beine erstarrten. »Na los«, sagte sie. »Komm raus da.«
    Nach kurzem Zögern begann der Eindringling rückwärts zu krabbeln. Der Junge, der kurz darauf vor ihr stand, schien etwa zehn Jahre alt zu sein, obwohl Nell nie gut darin gewesen war, das Alter von Kindern zu schätzen. Er war ein schmales Bürschchen mit aschblondem Haar und knubbeligen Knien, und seine Schienbeine waren von blauen Flecken übersät.
    »Ich nehme an, du bist der kleine Lausejunge, der es sich in meinem Haus gemütlich gemacht hat.«
    Der Junge blinzelte mit seinen dunkelbraunen Augen, dann ließ er den Kopf sinken.
    »Wie heißt du? Na komm schon, raus damit.«
    »Christian.«
    So leise, dass Nell es kaum verstanden hatte.
    »Christian, und weiter?«
    »Christian Blake. Ich hab aber nichts kaputt gemacht. Mein Vater arbeitet da drüben auf dem großen Anwesen, und manchmal komme ich hierher und setze mich in den - in Ihren Garten.«

    Nell betrachtete die wuchernden Brombeerranken. »Aha, dann befindet sich also ein Garten hinter der Mauer? Ich hatte mich schon gefragt, was wohl dahinter verborgen sein mochte.« Sie schaute den Jungen wieder an. »Sag mal, Christian, weiß deine Mutter eigentlich, wo du dich herumtreibst?«
    Der Junge ließ die Schultern hängen. »Ich hab keine Mutter.«
    Nell hob die Brauen.
    »Sie ist im Sommer ins Krankenhaus gekommen, und dann …«
    Nell seufzte, ihre schlechte Laune war mit einem Mal verflogen. »Verstehe. Na ja. Wie alt bist du? Neun? Zehn?«
    »Fast elf.« Trotzig schob er die Hände in die Hosentaschen.
    »Selbstverständlich, wie dumm von mir. Ich habe eine Enkelin in deinem Alter.«
    »Mag sie auch Gärten?«
    Nell sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich bin mir nicht sicher.«
    Christian legte den Kopf schief und zog die Stirn kraus.
    »Aber ich glaube schon.« Nell hatte das Gefühl, sich entschuldigen zu müssen, und schalt sich sogleich dafür. Sie brauchte sich keine Vorwürfe zu machen, bloß weil sie nicht wusste, was im Kopf von Lesleys Tochter vorging. »Ich sehe sie nicht so oft.«
    »Wohnt sie denn weit weg von Ihnen?«
    »Nein, eigentlich nicht.«
    »Warum sehen Sie sie denn dann nicht oft?«
    Nell musterte den Jungen, unsicher, ob sie seine Frechheit als charmant empfinden sollte. »Manchmal ist das einfach so.«
    So wie der Junge sie ansah, kam ihm die Erklärung offenbar ebenso fadenscheinig vor wie ihr selbst. Aber manche Dinge konnte man eben nicht so leicht erklären, vor allem nicht kleinen Jungen, die in fremde Gärten eindrangen.
    Nell rief sich in Erinnerung, dass der kleine Rotzbengel erst kürzlich seine Mutter verloren hatte. Gerade sie selbst wusste doch nur zu gut, dass man ziemlich unausstehlich werden konnte,
wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Sie atmete aus. Das Leben konnte verdammt grausam sein. Warum musste dieser Junge ohne Mutter aufwachsen? Warum musste irgendeine arme Frau jung sterben und diesen kleinen Kerl zurücklassen, der seinen Weg in die Welt jetzt ohne sie finden musste? Als Nell die dünnen Arme und Beine des Jungen betrachtete, zog sich ihr Magen zusammen. Etwas ruppig, aber freundlich fragte sie: »Was wolltest du denn eigentlich in meinem Garten?«
    »Ich wollte keinen Unsinn anstellen, ehrlich. Ich sitze einfach gern da rum.«
    »Und auf diesem Weg kommst du da rein? Unter der Mauer hindurch?«
    Der Junge nickte.
    Nell betrachtete die Öffnung. »Ich glaube nicht, dass ich da durchpasse. Wo ist das Tor?«
    »Es gibt keins.«
    Nell runzelte die Stirn. »Ich habe einen Garten ohne Eingang?«
    Wieder nickte der Junge. »Früher war da mal ein Tor, von innen kann man sehen, wo es zugemauert wurde.«
    »Warum sollte denn jemand auf die Idee kommen, ein Gartentor zuzumauern?«
    Als der Junge mit den Achseln zuckte, ergänzte Nell in Gedanken ihre Liste der erforderlichen Verbesserungen. »Vielleicht kannst du mir ja ein bisschen von dem Garten erzählen, damit ich weiß, was ich verpasse?«, sagte sie. »Da ich nun mal nicht selbst nachsehen kann. Was zieht dich ausgerechnet in diesen Garten?«
    »Für mich ist er der schönste Ort auf der Welt«, antwortete Christian ernst. »Ich sitze gern da und spreche mit meiner

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