Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
kunstvoll gestalteten Griff und einem Bart mit stumpfen Zähnen. Nell betrachtete ihn aufmerksam. Er war fast so groß wie ihre Hand. Sie legte ihn auf dem Holztisch in der Küche ab. In der Küche ihres Hauses. Na ja, ihres zukünftigen Hauses. Noch zehn Tage.
Wenn der Vertrag in Kraft trat, würde Nell nicht mehr in Tregenna sein. Ihr Rückflug ging in vier Tagen, und als sie versucht hatte, den Flug umzubuchen, hatte man ihr erklärt, dass das zu einem so späten Zeitpunkt nur zu einem exorbitant hohen Preis möglich war. Also hatte sie sich entschlossen, wie geplant nach Australien zurückzukehren. Der Notar, der den Kaufvertrag für sie aufgesetzt hatte, war sehr gern bereit gewesen, den Schlüssel bis zu ihrer Rückkehr für sie aufzubewahren. Nell hatte dem Mann versichert, es würde nicht lange dauern, sie brauche nicht viel Zeit, um ihre Angelegenheiten zu regeln, dann würde sie wieder nach England kommen und sich in Cornwall niederlassen.
Denn für Nell stand fest, dass das ihre letzte Reise nach Brisbane sein würde. Was hielt sie dort noch? Ein paar Freunde, eine Tochter, die sie nicht mehr brauchte, Schwestern, die sich immer nur über sie wunderten. Ihr Antiquitätenladen würde ihr fehlen, aber vielleicht konnte sie ja in Cornwall noch einmal von vorn anfangen. Und wenn sie erst einmal in England lebte, würde sie ihrem Geheimnis auf den Grund gehen. Sie würde in Erfahrung bringen, warum Eliza sie entführt und auf das Schiff nach Australien gesetzt hatte. Jeder brauchte einen Lebenszweck, und Nell würde die Lösung des Rätsels zu dem ihren machen. Wie sollte sie sonst herausfinden, wer sie war?
Langsam ging Nell durch die Küche und machte in Gedanken eine Bestandsaufnahme. Wenn sie aus Australien zurückkam, würde sie als Allererstes gründlich sauber machen, den Staub von Jahrzehnten entfernen, der sich auf jeder freien Fläche niedergelassen hatte. Außerdem würden auch Renovierungsarbeiten nötig sein: An einigen Stellen fehlten Fußleisten, wahrscheinlich
mussten an der Wandverkleidung einige Paneele ersetzt werden, und auf jeden Fall musste die Küche wieder so hergerichtet werden, dass man sie benutzen konnte …
Natürlich gab es in einer Kleinstadt wie Tregenna alle möglichen Handwerker, die sie anheuern konnte, aber die Vorstellung, Fremde an ihrem Haus arbeiten zu lassen, widerstrebte Nell. Genauso wie sie damals die sterbende Lil gepflegt und sich geweigert hatte, das irgendwelchen fremden Menschen zu überlassen, würde sie auch ihr Haus eigenhändig wieder in Schuss bringen. Sie würde die Fertigkeiten anwenden, die Haim ihr vor all den Jahren beigebracht hatte, als sie, weil sie ihren Dad so innig liebte, jede freie Minute mit ihm in seinem Schuppen unter dem Mangobaum verbracht hatte.
Nell blieb neben dem Schaukelstuhl stehen. Ein paar Gegenstände in der Ecke erregten ihre Aufmerksamkeit. Sie trat näher. Eine halb leere Saftflasche, ein angebrochenes Päckchen Kekse, ein Comic-Heft mit dem Titel Whizzer and Chips . Die Sachen hatten jedenfalls nicht da gelegen, als Nell das Haus zum ersten Mal besichtigt hatte, was nur bedeuten konnte, dass seitdem jemand hier gewesen war. Nell blätterte in dem Comic-Heft: Bei dem Jemand musste es sich um einen Jugendlichen handeln.
Ein feuchter Luftzug streifte Nells Gesicht, und sie schaute in Richtung Küche. Im Fenster fehlte eine von vier Scheiben. Nell nahm sich vor, die Scheibe vor ihrer Abreise durch ein Stück Plastikplane zu ersetzen, dann streckte sie den Kopf aus dem Fenster. Parallel zum Haus verlief eine riesige Hecke, so dicht wie eine Wand. Aus dem Augenwinkel meinte sie etwas Buntes wahrzunehmen, das sich bewegte, doch als sie genauer hinsah, konnte sie nichts entdecken. Wahrscheinlich ein Vogel oder ein Opossum. Gab es überhaupt Opossums in Cornwall?
Aus dem Lageplan, den der Anwalt ihr geschickt hatte, ging hervor, dass das Grundstück sich hinter dem Haus noch ein gutes Stück weiter erstreckte. Das bedeutete wohl, dass das hinter
der hohen Hecke gelegene Areal ebenfalls ihr gehörte. Das musste sie sich unbedingt näher ansehen.
Der schmale Weg, der ums Haus herum nach hinten führte, lag im Schatten und war von Unkraut halb überwuchert, sodass Nell nur langsam vorankam, und hinter dem Haus musste sie sich erst einmal durch dichtes Brombeergestrüpp kämpfen, um bis an die Hecke zu kommen.
Plötzlich nahm sie wieder eine Bewegung wahr, diesmal dicht neben sich. Nell schaute nach unten. Unterhalb der Mauer
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