Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
Bedenken zu äußern. An warmen Nachmittagen waren sie gemeinsam in die Mitte der Bucht hinausgerudert. Hatten still dagesessen und den Wellen gelauscht, die sanft gegen den Bootsrumpf schlugen, und nichts anderes gebraucht als einander. Das hatte Linus jedenfalls geglaubt.
Als sie gegangen war, hatte sie dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit mit sich genommen, das ihm so wichtig gewesen war. Das Gefühl, dass er etwas zu bieten hatte, auch wenn seine Eltern ihn für einen dummen, nichtsnutzigen Jungen hielten. Ohne Georgiana war ihm der Sinn des Lebens abhanden gekommen. Und deswegen hatte er beschlossen, dass sie zurückgeholt werden musste.
Linus hatte einen Mann angeheuert. Henry Mansell, ein dunkler, zwielichtiger Charakter, dessen Name in den Pubs von Cornwall geflüstert wurde und den Linus vom Kammerdiener eines befreundeten Grafen erfahren hatte. Es hieß, der Mann sei in der Lage, Dinge zu regeln.
Linus erzählte Mansell von Georgiana und von dem Kummer, den er litt, seit dieser Mann sie entführt hatte, der Mann, der auf den Schiffen arbeitete, die im Londoner Hafen anlegten.
Kurz darauf erfuhr Linus, dass der Seemann tot war. Ein Unfall, sagte Mansell ohne jede Gefühlsregung, ein äußerst bedauerlicher Unfall.
Ein seltsames Gefühl überkam Linus an jenem Nachmittag. Auf seinen Befehl hin war ein Menschenleben ausgelöscht worden. Er besaß die Macht, anderen seinen Willen aufzuzwingen, er fühlte sich wie berauscht.
Er zahlte Mansell eine stattliche Summe, dann hatte dieser sich verabschiedet und sich auf die Suche nach Georgiana gemacht. Linus war voller Hoffnung gewesen, denn offenbar gab es nichts, was dieser Mann nicht bewerkstelligen konnte. Seine geliebte
Schwester würde schon bald wieder nach Hause zurückkehren und ihrem Bruder dankbar sein für ihre Rettung. Alles würde wieder so sein wie früher …
Der schwarze Felsen wirkte heute feindselig. Linus blieb fast das Herz stehen, als er daran dachte, wie sein Püppchen auf diesem Felsen gesessen hatte. Er zog das Foto aus seiner Rocktasche und glättete es mit dem Daumen.
»Georgiana«, flüsterte er kaum hörbar. Mansell hatte sie nie gefunden. Er hatte ganz Europa nach ihr abgesucht, Spuren in London verfolgt, alles ohne Ergebnis. Linus hatte nie wieder ein Wort von seiner Schwester gehört, bis Ende 1900 aus London die Nachricht eintraf, dass ein Kind gefunden worden war. Ein Mädchen mit rotem Haar und den Augen ihrer Mutter.
Linus schaute zum Rand der Klippe hoch, die die Bucht auf der linken Seite begrenzte. Von dort, wo er stand, konnte er gerade die Ecke der neuen Steinmauer erkennen.
Wie er frohlockt hatte, als die Nachricht von dem Kind eingetroffen war. Um seine Schwester zu retten, war es zu spät gewesen, aber durch dieses Mädchen würde er sie wieder bei sich haben.
Doch dann war alles anders gekommen als erwartet. Eliza hatte sich ihm widersetzt, hatte nie begriffen, dass er sie hatte nach Blackhurst bringen lassen, um ihr zu beweisen, dass sie zu ihm gehörte.
Und jetzt quälte es ihn zu wissen, dass sie dort in dem verfluchten Cottage eingesperrt war. So nah und doch … Vier Jahre war es her, dass sie zuletzt das Labyrinth durchquert hatte. Warum war sie so grausam? Warum verweigerte sie sich ihm immer und immer wieder?
Ein plötzlicher Windstoß drohte Linus den Hut vom Kopf zu wehen. Als er ihn instinktiv festhielt, flog ihm das Foto aus der Hand.
Während Linus hilflos dastand, trug der Wind das Bild seiner
geliebten Schwester davon. Auf und ab trudelte es, schimmerte weiß im grellen Widerschein der Wolken, flatterte provozierend vor seiner Nase, bis es schließlich aufs Meer hinaussegelte.
Einmal mehr war ihm seine Schwester zwischen den Fingern entglitten.
Seit Elizas Besuch konnte Rose sich gar nicht wieder beruhigen. Tag und Nacht zerbrach sie sich den Kopf darüber, wie sie dem Dilemma entkommen könnte. Eliza durch das Tor des Labyrinths kommen zu sehen, war ein Schock gewesen, denn sie hatte ganz plötzlich begriffen, dass sie sich in Gefahr befand. Schlimmer noch, ihr war bewusst geworden, dass die Gefahr schon lange lauerte. Die Mischung aus Panik und Erleichterung, die sie überkam, machte sie ganz benommen - Erleichterung darüber, dass so lange alles gutgegangen war, und Panik, weil sie wusste, dass ein solches Glück nicht von Dauer sein konnte. Nachdem Rose alle Möglichkeiten durchgegangen war, die ihnen blieben, war ihr eins klar geworden: Mama hatte recht, sie mussten
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