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Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden

Titel: Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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gleich, denn Schmetterlinge beherrschen die Menschensprache nicht. Sie singen süße Lieder mit wundervollen Versen, die Erwachsene nicht verstehen. Nur Kinder hören ihren Ruf.
    »Ivory, komm her.«
    Mamas Stimme klang jetzt strenger, und das kleine Mädchen flatterte zu der weißen Gartenbank hinüber.
    »Komm, komm«, sagte Mama, streckte die Arme aus und winkte mit ihren bleichen Fingerspitzen.
    Glücklich kletterte das kleine Mädchen auf ihren Schoß. Mama umschlang sie mit den Armen und drückte ihre kühlen Lippen auf die Haut unter ihrem Ohr.

    »Ich bin ein Schmetterling«, sagte das kleine Mädchen. »Die Gartenbank ist mein Kokon …«
    »Schsch. Sei still.« Mamas Gesicht war ganz nah, und das kleine Mädchen merkte, dass sie nach etwas Ausschau hielt. Die Kleine drehte sich um, weil sie sehen wollte, was Mama so faszinierte.
    Eine Dame kam auf sie zu. Die Kleine kniff die Augen zusammen, um aus dieser Fata Morgana schlau zu werden. Denn diese Dame sah ganz anders aus als die Damen, die sonst zu Mama und Großmama zu Besuch kamen, um mit ihnen Tee zu trinken oder Bridge zu spielen. Diese Dame sah irgendwie aus wie ein zu groß geratenes Mädchen. Sie trug ein weißes Baumwollkleid, und ihr rotes Haar war nur lose zusammengehalten.
    Das kleine Mädchen schaute sich nach der Kutsche um, die die Dame gebracht haben musste, aber es war keine zu sehen. Es war, als wäre sie wie durch Zauberei erschienen.
    Dann wusste die Kleine plötzlich Bescheid. Voller Staunen hielt sie den Atem an. Die Dame kam nicht vom Eingangstor her, sie kam aus dem Labyrinth.
    Das Labyrinth war Ivory verboten. Mama und Großmama wurden nicht müde, sie vor den dunklen Gängen und vor unbekannten Gefahren zu warnen. Das Verbot war so streng, dass nicht einmal Papa, der sich zu fast allem erweichen ließ, jemals gewagt hatte, es zu übertreten.
    Die Dame kam immer näher. Sie hatte etwas unter dem Arm, ein in braunes Papier gewickeltes Päckchen.
    Mama drückte Ivory inzwischen so fest an sich, dass sie kaum noch Luft bekam.
    Die Dame blieb vor ihnen stehen.
    »Guten Tag, Rose.«
    Das war Mamas Name, aber Mama sagte nichts.
    »Ich weiß, dass ich eigentlich nicht herkommen dürfte.« Eine silbrige Stimme wie ein Spinnfaden, den Ivory gern zwischen den Fingern gehalten hätte.

    »Warum bist du dann hier?«
    Die Dame hielt das Päckchen hin, aber Mama nahm es nicht an. Stattdessen hielt sie ihre Tochter noch fester. »Ich will nichts von dir.«
    »Es ist nicht für dich.« Die Dame legte das Päckchen auf die Gartenbank. »Es ist für die Kleine.«
     
     
     
    Das Päckchen hatte das Märchenbuch enthalten, daran erinnerte sich Nell jetzt wieder. Später hatten ihre Eltern sich deswegen gestritten, ihre Mutter hatte darauf bestanden, dass das Buch verschwand, und ihr Vater hatte es mitgenommen. Aber er hatte es nicht weggeworfen. Er hatte es in seinem Atelier neben der abgegriffenen Ausgabe von Moby Dick ins Regal gestellt. Und er hatte Nell daraus vorgelesen, wenn ihre Mutter krank im Bett lag und nichts davon mitbekam.
    Ergriffen von der Erinnerung streichelte Nell den Einband. Das Buch war ein Geschenk von Eliza gewesen. Vorsichtig schlug sie es an der Stelle auf, wo seit sechzig Jahren ein Stück Seidenband als Lesezeichen steckte. Das Band war tiefviolett und an dem Ende, wo es abgeschnitten war, nur ein bisschen ausgefranst. Das Märchen, das auf der gekennzeichneten Seite begann, trug den Titel Die Augen des alten Weibleins . Nell las die Geschichte von der Prinzessin, die nicht wusste, dass sie eine Prinzessin war, die über das Meer in das Land der verloren gegangenen Dinge reiste, um dem alten Weiblein sein Augenlicht wiederzubringen. Sie konnte sich schwach an den Inhalt erinnern, wie man sich an ein Lieblingsmärchen aus der Kindheit erinnert. Nell legte das Lesezeichen an die neue Stelle, schlug das Buch zu und legte es auf die Fensterbank.
    Stirnrunzelnd betrachtete sie es dort einen Augenblick und beugte sich dann noch einmal über das Buch. Wo einst das Lesezeichen gesteckt hatte, klaffte noch immer eine kleine Lücke.

    Als Nell das Buch wieder aufschlug, öffneten sich die Seiten von ganz allein an der Stelle, wo das Märchen Die Augen des alten Weibleins begann. Sie fuhr mit dem Finger über die Mitte …
    Da fehlten ein paar Seiten. Nicht viele, nur fünf oder sechs, sodass man es leicht übersehen konnte.
    Jemand hatte die Seiten sehr sorgfältig direkt an der Bindung herausgetrennt, wahrscheinlich mit einem

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