Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
herausgeben.«
»Möchtest du zu Stein erstarren?«
»Nein«, antwortete die Jungfrau, »und das wird auch nicht geschehen. Denn ich diene meinem Königreich, indem ich das goldene Ei hüte.«
Die Zofe widersprach nicht, denn sie erkannte, dass die Jungfrau die Wahrheit sagte. Am nächsten Tag machte sich die Zofe auf den Rückweg zum Schloss, und als sie dort eintraf, erwartete sie die Königin schon an der Schlossmauer.
»Wo ist das goldene Ei?«, verlangte die Königin zu wissen, als sie die leeren Hände der Zofe erblickte.
»Ich konnte meinen Auftrag wieder nicht erfüllen«, antwortete die Zofe. »Denn die Jungfrau in der Hütte hat sich auf ihr Geburtsrecht berufen.«
»Hast du der Jungfrau gesagt, dass es ihre Pflicht ist, dem Königreich zu dienen?«
»Ja, das habe ich, Eure Majestät«, erwiderte die Zofe. »Und sie hat geantwortet, dass sie dem Königreich dient, indem sie das goldene Ei hütet.«
Die Königin kochte vor Wut, und ihr Gesicht wurde ganz grau. Wolken zogen am Himmel auf, und die Raben des Königreichs brachten sich in Sicherheit.
Dann fielen der Königin die Worte des Spiegels wieder ein - »Was sie tut, tut sie zum Wohl des Königreichs« -, und ihre Lippen verzogen sich zu einem bösen Lächeln. »Du wirst noch einmal zurückkehren«, sagte sie zu der Zofe, »und diesmal wirst du der Jungfrau Folgendes ausrichten: Wenn sie das goldene Ei nicht herausgibt, trägt sie die Schuld daran, dass die Prinzessin bis ans Ende ihrer Tage trauert und das ganze Land in einen ewigen Winter fällt.«
Und so machte die Zofe sich zum dritten Mal auf den Weg gen Osten, wanderte drei Tage und drei Nächte, bis sie vor der Hütte stand. Sie klopfte und wurde von der Jungfrau mit einer Schüssel heißer Brühe willkommen geheißen. Die Jungfrau saß am Spinnrad,
während die Zofe ihre Suppe aß, dann sagte sie: »Du bist in meiner Hütte willkommen, Fremde, aber verzeih mir, wenn ich dich frage, was dich hierhergeführt hat.«
»Die Königin hat mich abermals geschickt«, antwortete die Zofe. »Sie braucht deine Hilfe, damit ihre Tochter, die Prinzessin, wieder gesund wird. Es ist deine Pflicht, dem Königreich zu dienen. Wenn du dich weigerst, das goldene Ei herauszugeben, trägst du die Schuld daran, dass die Prinzessin bis ans Ende ihrer Tage trauert und das ganze Land in ewigen Winter fällt.«
Lange schwieg die Jungfrau. Dann nickte sie langsam. »Um des Wohls der Prinzessin und um des Wohls des Landes willen werde ich das goldene Ei herausgeben.«
Die Zofe erschauerte, als sich Stille über den Wald legte und ein kalter Wind durch den Spalt unter der Tür hereinkam und das Feuer flackern ließ. »Nichts ist wichtiger, als dein Geburtsrecht zu schützen«, sagte sie. »Es ist deine Pflicht, zum Wohl des Landes das goldene Ei zu hüten.«
Die Jungfrau lächelte. »Aber welchen Dienst erweise ich meinem Land, wenn ich es durch meine Pflichterfüllung in ewigen Winter versinken lasse? Wenn das Land gefriert und es keine Vögel und keine Tiere und keine Ernte mehr gibt? Jetzt erfülle ich meine Pflicht, indem ich das goldene Ei herausgebe.«
Die Zofe schaute die Jungfrau traurig an. »Nichts ist wichtiger, als dein Geburtsrecht zu erfüllen«, sagte sie. »Das goldene Ei ist ein Teil von dir, und deswegen musst du es hüten.«
Aber die Jungfrau hatte einen großen, goldenen Schlüssel von einem Band genommen, das sie um den Hals trug, und steckte ihn in das Schloss der besonderen Tür. Als sie den Schlüssel umdrehte, stieg ein Stöhnen aus dem Boden der Hütte auf, die Kaminsteine klapperten, und die Dachbalken seufzten. In der Hütte wurde es dunkel, doch aus dem geheimen Zimmer drang ein Leuchten. Die Jungfrau verschwand in dem Zimmer, und als sie wieder hervorkam, hielt sie in den Händen einen von einem Tuch
bedeckten Gegenstand, der so kostbar war, dass selbst die Luft vor Ehrfurcht zu summen schien.
Gemeinsam verließen sie die Hütte, und am Rand der Lichtung übergab die Jungfrau der Zofe ihr Geburtsrecht. Als sie zu ihrer Hütte zurückging, sah sie, dass es dunkel geworden war. Plötzlich hatte das Licht nicht mehr genug Kraft, um das dichte Laubdach des Waldes zu durchdringen. Und ohne das Glühen des goldenen Eis wurde es in der Hütte immer kälter.
Die Tiere hörten auf, die Jungfrau zu besuchen, die Vögel flogen fort, und die Jungfrau erkannte, dass ihr Leben keinen Sinn mehr hatte. Sie vergaß zu spinnen, ihre Stimme war nur noch ein Flüstern, und nach einer Weile spürte
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