Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
wenn andere diese Kunst erheblich besser beherrschen? Wir gehen um die Ecke ins Carluccio’s.« Sie schaltete den Wasserkocher ein.
»Tee?«
Cassandra lächelte schwach. Viel eher war ihr danach, die Gesichtsmuskeln zu entspannen, um ihr angestrengtes Dauerlächeln loszuwerden. Vielleicht lag es ja daran, dass sie so viele Stunden hoch oben über der Erde verbracht hatte, oder vielleicht war es auch nur ihre eher ungesellige Art, aber sie musste all ihre Energie aufbringen, um die Fassade zu wahren. Eine Tasse Tee würde bedeuten, dass sie mindestens noch zwanzig weitere Minuten lächeln und nicken und, schlimmer noch, auf Rubys ständige Fragen eingehen müsste. Einen Augenblick lang dachte sie sehnsüchtig und zugleich schuldbewusst an das Hotelzimmer am anderen Ende der Stadt. Dann bemerkte sie, dass Ruby bereits Teebeutel in zwei Tassen gehängt hatte. »Ja, eine Tasse Tee wäre prima.«
»Bitte«, sagte Ruby und reichte Cassandra eine dampfende Tasse. Sie setzte sich ans Ende des Sofas und sah Cassandra freudestrahlend an. Um sie herum breitete sich eine moschusgeschwängerte Wolke aus. »Fühl dich ganz wie zu Hause«, sagte
sie und deutete auf die Zuckerdose. »Beim Teetrinken kannst du mir alles über dich erzählen. Wie aufregend, dieses Haus in Cornwall.«
Nachdem Ruby endlich ins Bett gegangen war, versuchte Cassandra zu schlafen. Sie war hundemüde, alle Farben, Geräusche und Formen um sie herum verschwammen, und doch fand sie keinen Schlaf.
Bilder und Gesprächsfetzen wirbelten ihr durch den Kopf, ein nicht enden wollender Strom von Gedanken und Gefühlen, die alle nur ihre derzeitige Situation zum Inhalt hatten: Nell und Ben, der Antiquitätenstand, ihre Mutter, der lange Flug, der Flughafen, Ruby, Eliza Makepeace und ihre Märchen …
Irgendwann verwarf sie schließlich endgültig den Gedanken an Schlaf, schob das Laken beiseite und stand auf. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, und es war kein Problem, den Weg zum einzigen Fenster der Wohnung zu finden. Die breite Fensterbank ragte über den Heizkörper hinaus ins Zimmer, und wenn sie die Vorhänge zur Seite schob, konnte sie darauf sitzen, den Rücken an die eine Seite der breiten Fensterlaibung gelehnt, die Füße gegen die andere Seite gestemmt. Sie schaute über die schmalen, von efeubewachsenen Steinmauern eingefassten viktorianischen Gärten hinweg auf die Straße unter ihr. Der Mond tauchte die Szenerie in sanftes Licht.
Es war zwar schon fast Mitternacht, aber London war keineswegs dunkel. Städte wie London waren es wahrscheinlich nie, dachte Cassandra, zumindest heutzutage nicht mehr. Das moderne Leben hatte die Nacht getötet. Früher musste es ganz anders gewesen sein, als die Natur noch Erbarmen mit der Stadt gehabt hatte, als der Einbruch der Nacht die Straßen in schwarzes Pech und die Luft in Nebel verwandelt hatte: das London von Jack the Ripper.
Das war das London von Eliza Makepeace gewesen, das London, über das Cassandra in Nells Notizbuch gelesen hatte; nebelverhangene, von funzeligen Laternen notdürftig erleuchtete Straßen, in denen Pferde plötzlich aus dem Dunkel auftauchten, um gleich darauf wieder vom Nebel verschluckt zu werden.
Beim Anblick der dicht gedrängten Behausungen konnte sie sich das alles genau vorstellen: gespenstische Reiter, die ihre verängstigten Gäule über die Gehwege trieben. Laternenträger, die oben auf den Kutschen hockten und orange leuchtende Lampen hochhielten. Zuhälter und Huren, Polizisten und Diebe …
Cassandra gähnte und rieb sich die plötzlich schwer gewordenen Lider. Zitternd, obwohl ihr nicht kalt war, kletterte sie von der Fensterbank zurück unter die Decke, schloss die Augen und versank in tiefen, von Träumen erfüllten Schlaf.
16 London England, 1900
Der Nebel war dick und so gelb wie Pastinaken und Maissuppe. Er war über Nacht hereingekrochen, auf dem Fluss entlanggerollt und hatte sich schwer über die Straßen gelegt, hüllte die Häuser ein und quoll durch die Türritzen. Eliza lugte durch den Spalt zwischen den Mauersteinen. Unter dem reglosen Mantel aus Nebel verwandelten sich Häuser, Gaslaternen und Mauern in riesige Schatten, die hin und her schwankten, während die schwefligen Wolken sich um sie herumschoben.
Mrs Swindell hatte ihr einen Stapel Wäsche hingelegt, aber soweit Eliza sehen konnte, war es sinnlos, bei diesem Nebel zu waschen - was weiß war, würde bis zum Abend grau sein. Genauso gut konnte sie die Sachen einfach
Weitere Kostenlose Bücher