Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
dass ihr einfach nichts anderes übrig blieb. Wenn sie und Sammy je eine Chance haben wollten, dann brauchten sie eigenes Geld. Geld, von dem die Swindells nichts ahnten.
Eliza saß am Rand des Kamins, den Tonkrug auf dem Schoß, und wischte sich die rußigen Hände an der Innenseite ihres Rocks ab. Es wäre nicht gut, sie dort abzuwischen, wo Mrs Swindell es bemerken würde. Sie durfte auf keinen Fall deren Verdacht erregen.
Als Eliza überzeugt war, dass ihre Hände sauber genug waren, löste sie das seidene Band an dem Beutelchen, weitete vorsichtig die Öffnung und lugte hinein.
Sorg für dich selbst, hatte ihre Mutter ihr aufgetragen, und kümmere dich um Sammy. Und genau das hatte Eliza vor. In dem Beutel befanden sich vier Münzen. Zwölf Pence. Noch drei Pence, und sie hätte genug, um fünfzig Apfelsinen kaufen zu können. Das war alles, was sie brauchten, um als Apfelsinenverkäufer anzufangen. Von dem Geld, das sie dabei verdienen würden, könnten sie sich neue Apfelsinen kaufen, und dann würden sie eigenes
Geld verdienen. Sie hätten ihr eigenes kleines Geschäft. Und dann hätten sie die Freiheit, sich ein neues Zuhause zu suchen, wo sie sicher wären vor den habgierigen, bösartigen Blicken der Swindells und vor der immerwährenden Gefahr, den Wohltäterinnen ausgeliefert und ins Armenhaus gesteckt zu werden …
Schritte auf dem Treppenabsatz.
Eliza verstaute die Münzen schnell wieder, zog den kleinen Beutel zu und schob ihn in den Tonkrug. Mit klopfendem Herzen stellte sie den Krug zurück in den Schornstein; sie würde ihn später versiegeln. Gerade rechtzeitig gelang es ihr, sich auf ihr klappriges Bett zu setzen, als wäre nichts geschehen.
Als sich die Tür öffnete, stand Sammy da, von Kopf bis Fuß rußgeschwärzt.
In der dunklen Tür, eine schwach brennende Kerze in der Hand, kam er Eliza so dünn vor, dass sie zuerst dachte, es läge am Zwielicht. Als sie ihn anlächelte, trat er zu ihr, langte in seine Tasche und holte eine kleine Kartoffel hervor, die er aus Mrs Swindells Vorratsschrank stibitzt hatte.
»Sammy!«, schalt sie ihn und nahm die weiche Kartoffel. »Du weißt doch genau, dass sie sie immer abzählt. Sie kann sich ausrechnen, dass du sie genommen hast.«
Sammy zuckte die Achseln und begann, sich in der Waschschüssel neben dem Bett das Gesicht zu reinigen.
»Danke«, sagte Eliza und verstaute die Kartoffel schnell in ihrem Nähkorb, als Sammy wegsah. Sie würde sie am nächsten Morgen zurücklegen.
»Es wird kalt«, sagte sie und zog ihre Kittelschürze aus, unter der sie nur einen Unterrock trug. »Dieses Jahr kommt die Kälte ziemlich früh.« Zitternd legte sie sich ins Bett unter die dünne graue Decke.
In Unterhemd und Unterhose schlüpfte Sammy zu Eliza unter die Decke. Seine Füße waren eiskalt, und sie versuchte sie mit ihren eigenen zu wärmen.
»Alles wird gut werden«, sagte Eliza in Gedanken an ihr ledernes Beutelchen und an die zwölf Pence, die sich darin befanden. »Ich werde dafür sorgen, Sammy, ich versprech es dir.«
Schweigen.
»Soll ich dir eine Geschichte erzählen?«
Sie spürte, wie sich sein Kopf bewegte und seine Haare ihre Wange kitzelten, als er nickte. Und so begann sie mit ihrer Lieblingsgeschichte: »Es war einmal vor langer Zeit, die Nacht war kalt und dunkel, und die junge Prinzessin war ganz allein auf der Straße unterwegs. Die Zwillinge in ihrem Bauch strampelten und wanden sich, als sie hinter sich Schritte vernahm. Sofort wusste sie, welch böse Gestalt ihr nachstellte …«
Diese Geschichte erzählte sie schon seit Jahren, allerdings nicht, wenn ihre Mutter in der Nähe war, die immer fürchtete, sie würde Sammy mit solchen Schauergeschichten bloß Angst einjagen. Ihre Mutter verstand nicht, dass Kinder keine Angst vor Geschichten hatten, dass sie in der Realität weitaus beängstigendere Dinge erlebten, als in diesen Märchen je vorkamen.
15 London England, 2005
Bens Tochter Ruby erwartete Cassandra am Londoner Flughafen Heathrow. Eine mollige Frau von Ende fünfzig mit rotem Gesicht und kurzem silbergrauem Haar, die Entschlussfreudigkeit ausstrahlte. Sie besaß eine Energie, die die Atmosphäre um sie herum aufzuladen schien, und gehörte zu der Sorte Mensch, die von anderen bemerkt wurde. Noch ehe Cassandra ihre Verwunderung darüber ausdrücken konnte, dass sie von dieser Fremden am Flughafen abgeholt wurde, hatte Ruby bereits ihren Koffer in der Hand, legte ihr einen fleischigen Arm um die
Schultern und bugsierte
Weitere Kostenlose Bücher