Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
gedacht. Versucht, an nichts zu denken. An alles gedacht.
Dort unter dem Baum hatte Nell sie eines Nachmittags angetroffen. Es war Spätsommer, die größte Hitze war vorbei, und die Luft duftete schon nach Herbst. Cassandras Augen waren geschlossen.
Dass Nell neben ihr stand, spürte sie daran, dass die Sonne die Haut an ihren Armen nicht mehr wärmte und dass sich ein Schatten über ihre Augen legte.
Dann Nells Stimme. »Hab ich mir doch gedacht, dass ich dich hier finden würde.«
Cassandra sagte nichts.
»Meinst du nicht, es wird allmählich Zeit, dass du etwas unternimmst, Cass?«
»Bitte, Nell. Lass mich einfach.«
Langsamer, die einzelnen Wörter betonend: »Du musst irgendetwas tun …«
»Bitte …« Einen Bleistift in die Hand zu nehmen, verursachte ihr Übelkeit. Und wenn sie einen Zeichenblock auch nur aufschlug … Wie konnte sie es riskieren, dass ihr Blick auf eine rosige Wange fiel, auf eine Nasenspitze, auf zarte Babylippen …?
»Du musst etwas tun.«
Nell versuchte nur, ihr zu helfen, und dennoch hätte Cassandra am liebsten geschrien, ihre Großmutter gepackt und geschüttelt und dafür bestraft, dass sie sie einfach nicht verstand. Stattdessen seufzte sie nur. Ihre immer noch geschlossenen Lider flatterten leicht. »Das höre ich oft genug von Doktor Harvey. Ich hab keine Lust, mir das auch noch von dir anzuhören.«
»Ich rede nicht von Beschäftigungstherapie, Cass.« Dann, nach kurzem Zögern: »Du musst anfangen, deinen Teil beizutragen.«
Cassandra öffnete die Augen und hob eine Hand gegen die grelle Sonne. »Was?«
»Ich bin nicht mehr die Jüngste, meine Liebe. Ich brauche
Hilfe. Im Haushalt, im Laden. Ich brauche finanzielle Unterstützung.«
Die schockierenden Worte schimmerten in der klaren Luft, ihre scharfen Kanten wollten nicht verschwinden. Wie konnte Nell nur so kaltherzig sein? So gedankenlos? Cassandra fröstelte. »Ich habe meine Familie verloren«, brachte sie schließlich heraus. Vor lauter Anstrengung tat ihr der Hals weh. »Ich trauere.«
»Das weiß ich«, sagte Nell und setzte sich neben Cassandra ins Gras. Sie nahm ihre Hand. »Das weiß ich doch, Liebes. Aber inzwischen ist ein halbes Jahr vergangen. Und du bist nicht tot.«
Cassandra hatte angefangen zu weinen. Weil Nell es laut ausgesprochen hatte, konnte sie ihre Tränen nicht länger zurückhalten.
»Du bist noch da«, sagte Nell leise und drückte Cassandras Hand. »Und ich brauche Hilfe.«
»Ich kann nicht.«
»Doch, du kannst.«
»Nein …« Ihr dröhnte der Schädel; sie war müde, so schrecklich müde. »Ich meine, ich kann nicht. Ich kann nichts geben.«
»Du brauchst mir nichts zu geben. Ich möchte nur, dass du mit mir kommst und tust, worum ich dich bitte. Du kannst doch ein Poliertuch halten, oder?«
Nell strich Cassandra ein paar tränennasse Strähnen aus dem Gesicht. Dann sagte sie leise und in einem unerwartet stählernen Ton: »Du wirst darüber hinwegkommen. Ich weiß, dass du dir das nicht vorstellen kannst, aber du wirst es schaffen. Du bist eine Kämpfernatur.«
»Ich will das nicht überleben.«
»Auch das weiß ich«, hatte Nell gesagt. »Und es ist nur verständlich. Aber manchmal bleibt einem keine andere Wahl.«
Der Wasserkocher im Hotelzimmer schaltete sich mit einem
triumphierenden Klicken ab, und Cassandra goss mit zitternder Hand kochendes Wasser in ihre Tasse. Blieb einen Moment stehen und ließ den Tee ziehen. Mittlerweile wusste sie, dass Nell sie wirklich verstanden hatte, dass sie nur zu gut gewusst hatte, was für eine schreckliche Leere sich um einen herum auftat, wenn man plötzlich ganz allein auf der Welt war.
Sie rührte in ihrem Tee und seufzte, während Nick und Leo vor ihrem geistigen Auge verblassten. Zwang sich, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Sie befand sich im Hotel Blackhurst in Tregenna, Cornwall, und lauschte den Wellen eines fremden Meeres, die an einen ihr unvertrauten Strand rollten.
Hinter den hohen Bäumen zog eine Möwe wie ein schwarzer Schatten über den dunkelblauen Himmel, und der Mondschein schimmerte auf dem fernen Meer. Winzige Lichter blinkten entlang der Küste. Wahrscheinlich Fischerboote, dachte Cassandra. Tregenna war schließlich ein Fischerdorf. Seltsam. In der modernen Welt wunderte man sich, wenn man an einen Ort geriet, wo alles noch auf altmodische Art gemacht wurde, in einem überschaubaren Rahmen, so wie die Menschen es seit Generationen gewöhnt waren.
Cassandra trank einen Schluck Tee und atmete tief
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