Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
Märchen erinnerten.
Cassandra blätterte in Nells eselsohrigem Notizheft. Sie hatte es fast während der ganzen Zugfahrt in der Hand gehalten, weil sie die Fahrtzeit hatte nutzen wollen, um sich mit der nächsten Etappe von Nells Reise zu beschäftigen, aber dazu war es nicht gekommen. Ein guter Vorsatz, dessen Umsetzung allerdings nicht so einfach gewesen war. Die meiste Zeit hatte sie in Gesellschaft ihrer eigenen Gedanken verbracht, die sie seit dem Abendessen mit Ruby und Grey begleiteten. Eigentlich gab es keinen Tag, an dem sie nicht an Nick und Leo dachte, aber so offen und unverblümt an ihren Tod erinnert zu werden, hatte das schreckliche Erlebnis wieder auf schmerzliche Weise in die Gegenwart zurückgeholt.
Es war so plötzlich passiert. Wahrscheinlich geschahen solche Dinge immer unerwartet. Eben noch war sie Ehefrau und Mutter gewesen, im nächsten Augenblick ganz allein. Und das alles nur, weil sie sich eine Stunde zum Zeichnen freigenommen hatte. Sie hatte Nick den daumenlutschenden Leo in die Arme gedrückt und die beiden zum Einkaufen geschickt, obwohl sie gar nichts brauchten. Nick hatte ihr zugelächelt, als er losgefahren war, und Leo hatte ihr mit seiner kleinen Hand zugewinkt, in der anderen immer noch den seidenen Kopfkissenbezug, den er neuerdings ständig mit sich herumschleppte. Cassandra, in Gedanken bereits in ihrem Atelier, hatte abwesend eine Hand zum Gruß gehoben.
Das Allerschlimmste aber war, wie sehr sie die anderthalb Stunden genossen hatte, bis es an der Tür klopfte. Ihr war noch nicht einmal aufgefallen, wie lange die beiden schon weg waren …
Zum zweiten Mal war Nell Cassandras Retterin gewesen. Sie war sofort mit Ben gekommen, und Ben hatte Cassandra vorsichtig beigebracht, was passiert war, hatte ihr alles mit Worten erklärt, die ihr aus dem Mund des Polizisten völlig sinnlos erschienen waren: ein Unfall, ein ausweichender Laster, ein Zusammenstoß. Eine grauenhafte Verkettung von Ereignissen, die so alltäglich, so normal waren, dass sie sich unmöglich vorstellen konnte, davon betroffen zu sein.
Nell hatte nicht gesagt, es würde alles wieder gut werden. Sie hatte sich gehütet, so etwas zu behaupten, denn sie wusste, dass es nie, niemals wieder gut werden würde. Stattdessen hatte sie ein Beruhigungsmittel mitgebracht, damit Cassandra schlafen konnte. Sie hatte Cassandras rasenden Gedanken mit einem erlösenden Schlag Einhalt geboten, und sei es nur für ein paar Stunden. Und sie hatte Cassandra mit zu sich nach Hause genommen.
In Nells Haus war sie besser aufgehoben, dort konnten ihre
Geister es sich nicht so gemütlich machen, denn Nell hatte ihre eigenen Dämonen, da konnten die, die Cassandra mitbrachte, sich nicht ganz so frei entfalten.
An die erste Zeit danach hatte sie nur verschwommene Erinnerungen, eine Mischung aus Trauer und Entsetzen, und einen Albtraum, der sich beim Aufwachen nicht abschütteln ließ. Sie wusste nicht, was schlimmer gewesen war, die Nächte, in denen Nicks Geist sie heimsuchte und immer wieder fragte: Warum hast du uns fortgeschickt? Warum hast du darauf bestanden, dass ich Leo mitnehme? Oder die Nächte, in denen der Geist nicht kam, wenn sie ganz allein war, die dunklen Stunden sich endlos hinzogen und die erlösende Dämmerung schneller vorüber war, als sie sie wahrnehmen konnte. Und dann der Traum. Diese furchtbare Wiese mit der Verheißung, ihre Liebsten irgendwo finden zu können.
Tagsüber war es Leo, der sie verfolgte, das Geräusch seiner Spielsachen, ein Jauchzen, eine kleine Hand, die sich an ihrem Rock festklammerte, damit sie ihn auf den Arm nahm. Ach, das Aufflackern dieses Glücksgefühls, kurz und bruchstückhaft, und dennoch ganz real. Der Sekundenbruchteil, in dem sie vergaß. Und dann das böse Erwachen, wenn sie sich umdrehte, um ihn hochzuheben, und er nicht da war.
Sie hatte versucht auszugehen, hatte gehofft, ihren Geistern auf diese Weise entkommen zu können, aber es hatte nicht funktioniert. Es gab so viele Kinder, überall, wo sie hinkam. In den Parks, in den Schulen, in den Geschäften. Hatte es schon immer so viele gegeben? Schließlich war sie im Haus geblieben, hatte die Tage in Nells Garten verbracht, auf dem Rücken unter dem alten Mangobaum gelegen und zugesehen, wie die Wolken vorüberzogen. Hatte den blauen Himmel über den Blättern des Tempelbaums betrachtet, die in der Brise bebenden Palmwedel, die winzigen, sternförmigen Samenkörner, die der Wind auf den Weg regnen ließ.
Und an nichts
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