Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
Raums konnte Eliza ein Bett aus glänzendem, schwarzem Holz ausmachen, mit vier Pfosten, an denen geschnitzte Gestalten emporkletterten.
Auf dem Nachttisch stand ein Tablett mit einem Stück Brot und einer Schale Suppe, die längst aufgehört hatte zu dampfen. Leider konnte sie kein Fleisch entdecken, aber in der Not durfte man nicht wählerisch sein, wie ihre Mutter sie immer wieder ermahnt hatte. Heißhungrig machte Eliza sich über die Suppe her und schlang sie so schnell herunter, dass sie beinahe einen Schluckauf davon bekommen hätte. Zum Schluss tunkte sie mit dem Stück Brot auch noch den letzten Tropfen auf.
Mrs Hopkins, die ihr einigermaßen verblüfft zugesehen hatte, enthielt sich jeden Kommentars. Steif stellte sie die Laterne auf einer Kiste am Fußende des Betts ab und schlug die schwere Decke zurück. »So, ab ins Bett mit dir. Ich hab nicht die ganze Nacht Zeit.«
Eliza tat, wie ihr geheißen. Die Laken fühlten sich kalt und feucht an ihren Beinen an, die nach dem heftigen Schrubben immer noch ein bisschen empfindlich waren.
Mrs Hopkins nahm die Laterne wieder an sich, und gleich darauf hörte Eliza, wie die Tür geschlossen wurde. Dann war sie allein in dem stockfinsteren Zimmer. Die müden, alten Knochen des Hauses ächzten unter der prächtigen äußeren Hülle.
Die Dunkelheit des Schlafzimmers hatte eine eigene Stimme, dachte Eliza. Wie ein tiefes, fernes Grollen. Allgegenwärtig, bedrohlich, nie nah genug, um sich als etwas Harmloses zu erweisen.
Und dann fing es wieder an zu regnen, ein plötzlicher Wolkenbruch. Eliza fuhr zusammen, als ein Blitz den Himmel in zwei
Hälften teilte und die Welt für einen Augenblick in grelles Licht tauchte. In diesen kurzen Momenten, bevor ein Donner folgte, der das riesige Haus erzittern ließ, betrachtete Eliza die Wände des Zimmers eine nach der anderen, um sich ein Bild von ihrer Umgebung zu machen.
Blitz … Donner … Dunkler Holzschrank neben dem Bett.
Blitz … Donner … Offener Kamin an der gegenüberliegenden Wand.
Blitz … Donner … Alter Schaukelstuhl vor dem Fenster.
Blitz … Donner … Eine breite Fensterbank.
Auf Zehenspitzen lief Eliza über die kalten Dielen. Wind drang durch die Ritzen im Holz und fegte über den Fußboden. Sie kletterte auf die Fensterbank und schaute in die Dunkelheit hinaus. Wütende Wolken verhüllten den Mond, und der Garten lag unter einem Mantel aus stürmischer Nacht. Regen prasselte auf den durchtränkten Boden.
Ein weiterer Blitz erhellte das Zimmer. Ehe es wieder in der Dunkelheit versank, erhaschte Eliza einen Blick auf ihr Spiegelbild. Ihr Gesicht, Sammys Gesicht.
Eliza streckte eine Hand aus, doch das Bild war schon wieder verschwunden, und ihre Finger berührten nur das eisige Glas. In diesem Augenblick wurde ihr zum ersten Mal richtig bewusst, wie weit weg sie von zu Hause war.
Sie schlüpfte zurück zwischen die klammen, unvertrauten Bettlaken. Legte ihren Kopf auf Sammys Hemd. Schloss die Augen und glitt sanft in das Reich des Schlafs.
Plötzlich fuhr sie hoch.
Ihr Magen zog sich zusammen, und ihr Herz begann zu rasen.
Die Brosche ihrer Mutter. Wie war es möglich, dass sie sie vergessen hatte? In der Eile, in dem ganzen Durcheinander, hatte sie sie zurückgelassen. Hoch oben in der Lücke im Kamin, im Haus von Mr und Mrs Swindell, lag der Schatz, den ihre Mutter so lange gehütet hatte, und wartete.
22 Cornwall England, 2005
Cassandra hängte den Teebeutel in die Tasse und schaltete den Wasserkocher ein. Während sie darauf wartete, dass das Wasser heiß wurde, schaute sie aus dem Fenster. Ihr Zimmer im Hotel Blackhurst lag nach hinten mit Blick aufs Meer, und obwohl es bereits dunkel war, konnte sie die Gartenanlagen erkennen. Ein perfekt gepflegter Rasen erstreckte sich von der Terrasse aus auf abfallendem Gelände bis hin zu einer Reihe hoher Bäume, die im Mondlicht bläulich schimmerten. Diese Bäume standen direkt am Rand der Klippe, sie bildeten die letzte Verteidigungslinie an diesem besonderen Fleckchen Erde.
Irgendwo jenseits der kleinen Bucht lag der Ort selbst. Bisher hatte Cassandra noch nicht viel davon gesehen, da die Zugfahrt fast den ganzen Tag gedauert hatte, und als das Taxi sich schließlich durch die Hügellandschaft von Tregenna schlängelte, war es schon fast dunkel. Nur einmal, als das Taxi über eine Kuppe gefahren war, hatte sie einen kurzen Blick auf einen Kreis aus blinkenden Lichtern im Tal werfen können, die in der Abenddämmerung an ein Dorf aus einem
Weitere Kostenlose Bücher