Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
sein konnten. »Meine Mutter …«
»Nein«, die Tante hob eine Hand. »Nein.« Sie schlug sich mit der Hand vor den Mund und rang sich ein Lächeln ab. »Deine Mutter hat Schande über den Namen der Familie gebracht, hat alle beleidigt, die in diesem Haus leben. Hier wird nicht über sie gesprochen. Niemals. Das ist die erste und wichtigste Bedingung für deine Unterbringung auf Blackhurst Manor. Haben wir uns verstanden?«
Eliza biss sich auf die Lippe.
»Haben wir uns verstanden?« Überraschenderweise zitterte die Stimme der Tante.
Eliza nickte, eher vor Verblüffung als zustimmend.
»Dein Onkel ist ein Gentleman. Er kennt seine Pflichten.« Unwillkürlich richtete die Tante den Blick auf ein Porträt neben der Tür. Ein Mann in mittleren Jahren mit rötlichem Haar und einem Gesichtsausdruck, der Eliza an einen Fuchs erinnerte. Abgesehen von seinem roten Haar, hatte er keinerlei Ähnlichkeit mit Elizas Mutter. »Du darfst nie vergessen, was für ein unglaubliches Glück dir beschieden ist. Gib dir große Mühe, damit du vielleicht eines Tages die Großzügigkeit deines Onkels verdienst.«
»Ja, Mylady«, sagte Eliza, die sich gemerkt hatte, was Mr Thomas ihr eingeschärft hatte.
Die Tante drehte sich um und betätigte einen kleinen, silbernen Hebel an der Wand.
Eliza schluckte. Wagte, etwas zu sagen. »Verzeihung, Mylady«, sagte sie leise. »Werde ich meinen Onkel kennenlernen?«
Die linke Braue der Tante hob sich. Feine Fältchen bildeten sich auf ihrer Stirn, die sich schnell wieder glättete und wie aus Alabaster gemacht schien. »Mein Gatte hält sich gerade in Schottland auf, um die Kathedrale von Brechin zu fotografieren.« Als sie näher trat, konnte Eliza die Anspannung spüren, die von ihrem Körper ausging. »Dein Onkel hat sich zwar erboten, dich in seinem Haus aufzunehmen, aber er ist ein viel beschäftigter Mann, ein wichtiger Mann, der keine Zeit hat, um sich von Kindern ablenken zu lassen.« Sie presste die Lippen so fest zusammen, dass die Farbe aus ihnen wich. »Du darfst ihn niemals stören. Es reicht, dass er die Liebenswürdigkeit besitzt, dich herzuholen. Also hüte dich, mehr zu verlangen. Verstanden?« Die Lippen der Tante zitterten. »Hast du verstanden?«
Eliza nickte hastig.
Zum Glück ging die Tür wieder auf, und Mr Thomas trat ein.
»Sie haben geläutet, Mylady?«
Der Blick der Tante ruhte immer noch auf Eliza. »Das Kind braucht ein Bad.«
»Sehr wohl, Mylady. Mrs Hopkins hat bereits alle Vorbereitungen getroffen.«
Die Tante schüttelte sich. »Sie soll dem Badewasser etwas Karbolseife zugeben. Etwas Kräftiges, das diesen Londoner Dreck abwäscht.« Dann fügte sie kaum hörbar hinzu: »Ich wünschte, wir könnten gleich auch alles andere abwaschen, mit dem sie besudelt ist, wie ich fürchte.«
Immer noch mit dem Gefühl , wund geschrubbt zu sein, folgte Eliza Mrs Hopkins’ flackernder Laterne eine kalte Holztreppe hoch und dann einen Flur hinunter. Längst verstorbene Männer in vergoldeten Rahmen verfolgten sie mit lüsternen Blicken. Wie schrecklich es sein musste, porträtiert zu werden, dachte Eliza, so lange still sitzen zu müssen, nur damit man der Nachwelt eine Schicht von sich selbst hinterlassen konnte auf einem Stück Leinwand, das dann für immer einsam in einem dunklen Korridor hing.
Sie verlangsamte ihre Schritte. Auf dem letzten Bild war ein Gesicht, das sie wiedererkannte. Es sah anders aus als das in dem unteren Raum, auf diesem Bild war der Mann noch jünger. Sein Gesicht war voller, und von dem Fuchs, der ihm mit der Zeit seine Züge verleihen sollte, war noch nichts zu sehen. In diesem Porträt, im Gesicht des jungen Mannes, sah Eliza ihre Mutter.
»Der da ist dein Onkel«, sagte Mrs Hopkins. »Du wirst ihm noch früh genug in Fleisch und Blut begegnen.« Das Wort Fleisch machte Eliza auf die rosa- und cremefarbenen Farbtupfer aufmerksam, die auf dem Porträt in den dick aufgetragenen letzten Pinselstrichen des Künstlers haften geblieben waren. Bei dem Gedanken an Mr Mansells feuchte Finger lief ihr ein Schauer über den Rücken.
Am Ende eines dunklen Flurs blieb Mrs Hopkins stehen, und Eliza, die immer noch Sammys Kleider umklammert hielt, eilte
ihr nach. Mrs Hopkins angelte einen großen Schlüssel aus den Falten ihres Kleids und schob ihn ins Schloss. Sie öffnete die Tür und ging mit erhobener Laterne voraus.
Das Zimmer lag im Dunkeln, und die Laterne warf nur ein schwaches Licht über die Schwelle. In der Mitte des
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