Der verborgene Hof: Roman (German Edition)
Lorbeerblätter zu grün gepflückt wurden – wird sie deine vornehmen Gäste vergiften?«
»Dann muss ich also diese Fertigkeiten verstehen, um die Arbeit anderer beurteilen zu können.«
»Genau.« Sie lächelte, und die Freude an ihrer Schülerin überwand das Machtgefühl, das sie mich sonst so gern spüren ließ. »Wenn du einen Blindstich auf einen Blick von einer schlampig gearbeiteten Naht unterscheiden kannst, weißt du schon viel über die Person, die vor dir steht.«
»Ich würde wissen, ob sie einen guten Schneider hatte oder nur eine schnell gefertigte Kopie bekommen hat.«
»Wiederum hast du Recht. Jetzt dreh diesen Ärmel um und zeig mir, was wir falsch gemacht haben. Ich kann dir versichern, dass irgendwo ein Fehler ist.«
Im Zuge dieser Arbeit an einem der erfreulichsten Tage, den ich mit Mistress Leonie verbrachte, konnte ich endlich ein wenig Seide für meine Zwecke sicherstellen.
Ich brauchte viele Nächte, um eine Möglichkeit zu finden, einen Granatapfelsamen anzunähen. Kleine Schlingen, wie ich sie an Bord der Schicksalsvogel bei den Metallstiften angewendet hatte, waren hier nicht brauchbar. Stattdessen verwendete ich eine gestohlene Nadel als Bohrer und machte ein Loch in jeden Kern und nähte ihn dann an der Seide fest.
Der Stoff hatte nicht viel gemeinsam mit einer richtigen Glöckchenseide von zu Hause. Es gab kein Geräusch, außer wenn ich ihn faltete. Dann raschelten die Kerne hölzern. Aber sie waren da und setzten die zweimal unterbrochene Zählung meiner Tage fort.
Ich fand ein Versteck in der Decke meines Schlafraumes, wo die Balken in die Mauer führten. Dort brachte ich meine Seide, meine Samen und mein Nähzeug unter. Nichts sonst im Granatapfelhof besaß ich, nicht einmal meinen Körper. Aber das gehörte mir.
Während ich heimlich mit meiner Vergangenheit beschäftigt war, kam draußen der Winter und breitete sein eisiges Elend über die Steine und die geisterhaften Äste des Granatapfelbaumes. Ich verbrachte die kalten Nächte im Bett mit meiner Seide und ließ meine Finger über die Granatapfelkerne gleiten. Ich hatte genug davon gesammelt, dass es für jeden Tag meines Lebens reichen würde, soweit ich das abschätzen konnte. Es waren keine Glöckchen, aber sie mit den Fingerspitzen zu spüren ließ mich trotz dieser schrecklichen Erziehung zu einer feinen Dame von Copper Downs nicht vergessen, wer ich wirklich war.
Aber zählten diese Kerne? Würden sie meine Tage zählen und meiner Seele einen neuen Weg zeigen, wenn es so weit war? Was hätte meine Großmutter gesagt? Ausdauer hätte es nicht gekümmert. Mein Vater hätte nichts dazu zu sagen gewusst – Frauendinge waren ihm immer fremd geblieben.
Das ist auch der Grund, warum er dich verkauft hat, flüsterte ein verräterischer Gedanke in meinem Kopf. Einen Jungen hätte er genug geliebt, um ihn zu behalten.
Da weinte ich zum ersten Mal in den langen Monaten an diesem kalten Ort bittere Tränen. Ich glaubte nicht, dass ich laut schluchzte, aber nach einer Weile kam Mistress Tirelle ins Zimmer und sah mich zusammengerollt in meinem Elend auf dem Boden liegen.
»Mädchen«, sagte sie mit verschlafener Stimme. »Was hast du da für einen Stoff in der Hand?«
Sie jagte mich mit einer Holzspindel auf den verschneiten Hof hinaus. Mistress Tirelle schien es dieses Mal egal zu sein, ob die Schläge Spuren hinterließen. Ein Wutschrei begleitete jeden Hieb.
»Du wirst diese fixe Idee aufgeben, du blödes, kleines Miststück!«
»Niemals werde ich aufgeben!«, schrie ich in meiner Sprache. Meiner alten Sprache.
Ihre Faust traf mich am Kinn und schmetterte mich zu Boden. Mein Kleid war bereits durchnässt von Schweiß und Blut. Im Schnee wurde der feucht am Körper klebende Stoff eiskalt.
»Ich schwöre dir, wenn noch einmal dieser heidnische Dreck aus deinem Mund kommt, spalte ich dir die Zunge. Dann wird dich der Faktor als Wirtshausschlampe verkaufen, und die Männer werden dich zugrunde richten, ehe du zwanzig bist.«
Ich versuchte, mich loszureißen, aber sie schwang die Spindel erneut und traf mich quer über die Knie. Der Schmerz war betäubend.
»Du wirst diese Seide verbrennen, hier draußen unter den Sternen.«
»Aber der Schnee …«, begann ich einzuwenden, doch Mistress Tirelle versetzte mir einen Schlag.
»Du hast keine Erlaubnis zu sprechen! Bleib hier.«
Sie watschelte zum Eingang zurück und die Treppe hoch. Ich saß fröstelnd im Schnee, schluckte mein eigenes Blut und wünschte mir, ich
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