Der verborgene Hof: Roman (German Edition)
schlug mich Mistress Tirelle auch dafür.
Auch wenn ich Geduld bereits von Ausdauer gelernt hatte, war Mistress Tirelle es jetzt, die sie zu meinem Daseinszweck machte. Das Geräusch ihrer Sandalen auf dem Holzboden ersetzte die Glocke von Papas weißem Ochsen. Ihr heiserer, schwerer Atem war Ausdauers Schnauben, um mich zu rufen, wenn er mich in Gefahr wähnte, obgleich die Gefahr jetzt gerade dort auf mich wartete.
Der Hof draußen wurde noch kälter, als der erste nördliche Winter hereinbrach. Schwere Regenfälle setzten ein, die tagelang anhielten. Ich fühlte mich elend in dieser Kälte. Mistress Tirelle wickelte sich in weitere Lagen Wollstoff, gab mir aber nichts, das ich über mein Kleid anziehen konnte. Ich trocknete meine Granatapfelsamen in dem kleinen Wärmtopf, den ich in der Nacht haben durfte, und stahl Fadenreste für meine Seide.
Bald würde ich den ganzen Stoff stehlen. Ich musste nur einen Weg finden, Mistress Leonie abzulenken.
Sie hatte eine flache Truhe mitgebracht, die sich von oben wie hölzerne Flügel in mehrere Fächer öffnen ließ. Zusammengefaltete Stoffe lagen darin – Musselin, Baumwolle, Popelin, Seide, Wolle und andere Gewebe – alle durchdrungen vom Duft von Kampfer und Zedernholz, aus denen die Truhe gefertigt war. Manche Stoffe waren gefärbt, dass es einen Schmetterling beschämt hätte. Andere waren einfach und dunkel.
»Jeder dieser Stoffe ist von einer Qualität, wie man sie auf jedem Markt kaufen kann«, sagte Mistress Leonie.
Ich war nie auf einem Markt gewesen, doch sie war nicht an Geschichten aus meinem kurzen Leben interessiert.
»Ich habe dir gezeigt, wie man die Fadendichte herausfindet. Durch Übung kannst du lernen, die Qualität auch aus der Ferne abzuschätzen. Das ist nicht alles, das bei einem Stoff zählt, aber ein Hauptmerkmal.« Sie ließ ein meterlanges Stück schöner Wolle durch ihre Finger gleiten. »Ich werde einen Webstuhl mitbringen, um dir zu zeigen, wie so etwas gemacht wird.« Das heimtückische Grinsen trat auf ihre Lippen, das eine baldige Tracht Prügel verhieß. »Sag mir, Mädchen, was ist das für eine Wolle in meiner Hand?«
Das war eine Fangfrage, denn wir hatten noch nicht über Wollarten gesprochen. Aber ich hatte gehört, wie sie mit Mistress Tirelle über die verschiedenen Materialien sprach. Ich hatte mir die Worte gemerkt, aber ich konnte nur raten. »Es ist Kaschmir, Mistress.«
Ihr Grinsen schwand. »Du bist ein gescheites Ding. Pass auf, dass dir das nicht zu Kopf steigt.« Ihr Groll war verflogen. Sie forderte mich auf, das dichte Gewebe der Wolle anzufassen. Dann folgte eine kurze Unterrichtung über die Zucht einer besonderen Ziegenart in den Blauen Bergen, aus deren Fell dieser kostbarste aller Wollfäden hergestellt wurde.
Mit einer Hand hinter meinem Rücken, sodass sie es nicht sehen konnte, zog ich vorsichtig ein Stück Seide aus der Schatulle und ließ es zu Boden fallen. Mistress Leonie war in dem Moment ganz bei ihren Ziegen und sah es nicht.
Damit war ich zufrieden. Sie würde es sicher bemerken, aber solange ich nicht versuchte, das Stück Stoff unter den Stuhl zu schieben oder es irgendwie zu verstecken, musste sie annehmen, dass es einfach aus dem Stofffach gefallen war.
Doch ihren Augen entging weniger, als ich gedacht hatte. Als sie die Kaschmirwolle zurückgelegt hatte, befahl sie mir, neben der Schatulle zu warten, und ging Mistress Tirelle und die sandgefüllte Rolle holen.
Eine Stunde später stand ich zitternd im schwindenden Tageslicht unter dem Granatapfelbaum. Hier mochte mein Zittern von der Kälte herrühren und ich konnte mein Schluchzen verbergen. Diese Menschen waren böse Ungeheuer. Ich würde sie alle vernichten, wie ein Gott die Dämonen, und dann über das große Wasser heimkehren.
Ich wusste es jedoch besser. Federo hatte mich meinem Vater mit Worten entrissen, nicht mit dem Duellschwert eines Gecken. Ich würde mich von diesen Madenfrauen auch mit Worten befreien, nicht mit Waffen.
Ich erschrak, als das Tor aufging. Ein Reiter kam herein und trabte über den Granatapfelhof. Es war Federo, als hätte ich ihn mit meinen Gedanken herbeigerufen.
Er entdeckte mich, bevor er das Gebäude erreichte, und glitt elegant von seinem Pferd.
»Mädchen.« Eine aufrichtige Wärme lag in Federos Stimme, die erste Wärme, die mir an diesem Ort aus Stein und Leiden entgegengebracht wurde. »Wie gefällt es dir hier?«
»Oh …« Alle Furcht und aller Kummer lagen mir auf der Zunge. Dann blickte
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