Der verborgene Hof: Roman (German Edition)
Irgendwie verstand er es. »Ich schneide«, sagte er. »Ich behalte.«
Obgleich ich mir vorgestellt hatte, mein Haar zu verbrennen oder es ins Meer zu werfen, stimmte ich zu. Er würde es besser machen als ich. Wann hatte ich je Haare geschnitten? Außerdem konnte ich mich ja nicht von hinten sehen.
Wir beschlossen, die Haare in der Kombüse zu schneiden. Es hatte wenig Sinn, es vor aller Augen an Deck zu tun. Außerdem würden die Seeleute vielleicht nicht aufhören, mich als Mädchen zu sehen, wenn sie Zeuge meiner Verwandlung wurden.
Lao Jai holte eine große Schere. »Zum Schneiden von …«, sagte er und dazu ein Wort, das ich nicht kannte.
Ich nickte nur.
Er schärfte sie an einem kleinen Schleifstein, den er mit der Hand drehte. Im Gegensatz zur Schicksalsvogel mit ihrem großen Kessel unter Deck, war die Südliche Freiheit ausschließlich für den Antrieb durch Wind, Holz und Muskelkraft gebaut worden. Es gab deshalb auch keine Elektrik an Bord.
Schließlich setzte mich Lao Jai auf einen kleinen Faltstuhl hinter einem Tisch und machte sich an die Arbeit. Jeder Schnitt der Schere riss so heftig an meiner Kopfhaut, dass ich fast aufschrie. Ich hielt still und kämpfte mit zusammengepressten Lippen und zusammengekniffenen Augen mühsam gegen die Tränen an.
Das Schneiden der Haare war auf eine seltsame Weise noch schmerzhafter, als es das Zerschneiden der Wangen gewesen war. Ich versuchte zu ergründen, warum das so war. Im Prinzip konnte ich meine Narben mit Lehm und Farbe oder vielleicht auch mit der Hilfe eines Arztes oder Heilers unsichtbar machen. Mein Haar war eine andere Sache. Es würde eine ganze Weile meines Lebens dauern, es wieder wachsen zu lassen.
Mein Kopf fühlte sich leichter an, als Lao Jai zum Ende kam. Ich hatte nie darüber nachgedacht, dass mein Haar so schwer sein würde, aber jetzt reckte sich mein Hals ein Stück höher. »Danke«, sagte ich in Seliu und wiederholte es in Hanchu.
»Ich behalte, ich behalte.«
»Es gehört dir.«
Mit der zerrissenen Strumpfhose und dem Hemd als Unterwäsche schlüpfte ich in die Seemannskleidung, die mir Srini gegeben hatte. Meine weichen Lederstiefel würden während der Tage an Deck bald durchgetreten sein, deshalb hatte er mir auch ein Paar feste Schuhe beschafft. Mir schien es einfacher, barfuß zu gehen. Ich beobachtete die gischtenden Wogen und die kreisenden Vögel, während der Wind mit kalten feuchten Fingern über meinen Kopf strich. Ich griff hoch. Ich war nicht kahl geschoren, er hatte mir kurze Stoppeln gelassen.
Du brauchst einen Hut, dachte ich. Die Luft entlockte mir ein paar weitere Tränen, als meine Kopfhaut selbst im Sonnenschein kalt wurde. Dann machte ich mich auf den Weg, mir eine Kopfbedeckung zu besorgen.
Die Freiheit forderte ungewöhnliche Opfer.
Meine Kochkünste fanden bald Anerkennung auf der Südlichen Freiheit . Lao Jai unterrichtete mich in der Hanchu-Küche als Gegenleistung für mein kulinarisches Wissen, vor allem, was das Backen anging. Brot spielte keine so große Rolle in den Han-Ländern, wie ich erfuhr, und Süßspeisen noch weniger. Wir bereiteten anspruchsvolle Abendessen für den Kapitän und die Passagiere und hauchten dem Einerlei aus Eintopf und Zwieback für die Mannschaft mit wechselnden Gewürzen neues Leben ein.
Ein frischer Fang landete fast jeden Tag in der Kombüse. Ich wusste weitaus mehr über Wildbret als über Meerestiere und war dankbar, von Lao Jai darüber zu lernen. Er lehrte mich, einen Fisch zu beurteilen, wo ich nach Würmern oder anderen Parasiten suchen musste, und welche Gefahren ich im Darm erkennen konnte. Einige warfen wir über Bord für die Haie. Die er für gut befand, schnitten wir in dünne Scheiben für den kalten Verzehr und für die gebratenen Hanchu-Gerichte, oder auch in dicke, die ich als Steaks garen konnte. Ich kreierte leichte, gut gewürzte Soßen, die den besonderen Geschmack und das Aroma von Fisch unterstrichen.
Ich bereicherte das Essen mit Nachspeisen, Gebäck, mit Eis aus den Kühltruhen, pürierten Früchten oder Kompotten und Salaten. Lao Jai bereitete seine gebratenen Pfannengerichte zu, dünstete kleine Klöße aus Fisch oder Garnelen und zeigte mir, wie man Fleisch einlegte, bis es nahezu schlecht zu werden drohte, aber göttlich schmeckte.
Srini besuchte mich jeden Tag in der Kombüse oder auf Deck, um mit mir eine Weile in Seliu zu reden. Er war betroffen, wie gering meine Kenntnisse der Sprache waren.
»Du bist fast erwachsen, aber du hast
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