Der verbotene Garten
zu ihm auf das Dach geklettert, nur in ihrem offenen Morgenrock, sodass Cadet ihre Nacktheit gar nicht übersehen konnte. »Nimm dir, was du willst, doch dann lass mich gehen!«, hatte sie ihn angefleht. Cadet hatte stur geradeaus geschaut, als wäre er auf wundersame Weise immun gegen ihren Zauber.
Drei Tage, nachdem ich von Mamas Tod erfahren hatte, hatte sich Miss Everetts Mitgefühl jedoch erschöpft. Der Sonntagmorgen war gekommen, und trotz meiner Tränen wollte sie, dass ich meine Pflicht im hinteren Salon erfüllte.
Sie fasste mich am Arm und führte mich die Treppe hinunter.
»Bitte«, flehte ich erneut, »ersparen Sie mir doch heute, mich vor den Männern auszuziehen.«
»Wenn du schon diese einfache Aufgabe nicht bewältigen kannst, Ada, bist du für mein Haus womöglich ungeeignet.«
Als es vorbei war, brachte sie mich in mein Zimmer und befahl mir, den Rest des Tages dort zu bleiben, allein und ohne Essen. »Denk gut darüber nach, Miss Fenwick«, sagte sie. »Lass dir von der Trauer nicht dein Leben nehmen.« Dann schnappte sie sich Mrs. Riordans Tränenfläschchen, das an meinem Bettpfosten hing, stopfte es in ihre Tasche und verlieà das Zimmer.
Am nächsten Morgen machte Dr. Sadie ihre wöchentliche Visite, und im Salon kam es zu einem Streit zwischen ihr und Miss Everett. Ich presste ein Ohr an die Tür, doch ich konnte nur wenig verstehen, lediglich, dass Miss Everett »sehr, sehr enttäuscht« war. Dann sagte Dr. Sadie, schon kurz vor meiner Tür: »Ich will mein Bestes versuchen.«
»Miss Everett möchte, dass du mich heute begleitest«, sagte Dr. Sadie nach der Untersuchung. »Sie glaubt, eine kleine Luftveränderung würde dir guttun, und ich kann auf meiner Runde ein weiteres Paar Hände gebrauchen. Ich werde auch das Thema Waisenzüge nicht erwähnen, das verspreche ich.«
Aus Angst, dass Miss Everett mich andernfalls wieder auf die StraÃe setzen würde, willigte ich ein. Und, ehrlich gesagt, entfloh ich nur zu gern dem wachsamen Auge der Madame.
In der Third Avenue blieben wir vor einer Reihe von Gebäuden stehen, die mich an die Chrystie Street erinnerten. »Ich mache heute Hausbesuche«, sagte Dr. Sadie und fasste an eine Feuertreppe. »Los gehtâs.«
Ich folgte ihr die Sprossen hinauf, über die Dächer, über ein Haus nach dem anderen. Sie bewegte sich erstaunlich wendig, hob mit leichter Hand die schweren schwarzen Röcke ihrer Arztbekleidung an und wusste, leere Kisten und Schachteln als Stufen zu nutzen, um über den Rand des einen Dachs zum nächsten Dach zu steigen. Angeblich kam sie zu den meisten Patienten auf diesem Wege, denn es sei ihr angenehmer, nicht den Boden zu berühren. »Die Treppenhäuser sind ein Alptraum«, sagte sie schaudernd. »Wenn es irgendwie geht, meide ich diese finsteren Rattenlöcher.«
Viele ihrer Patienten lebten in überfüllten Zimmern unter dem Dach und schwitzten sich halbtot durch Akkordarbeit â sie rollten Zigarren, klebten Umschläge oder nähten Hemd um Hemd um Hemd. In ihre engen, dunklen Kammern zog das Siechtum ein. Die Krankheit gedieh, wo es weder Fenster noch Hoffnung gab.
Wir kletterten zu ihnen durch Dachluken und über AuÃentreppen. Wir sahen nach einer Witwe, um die sich niemand kümmerte, nach erschöpften Müttern, die viel zu viele Kinder hatten. Wir kamen zu Menschen, die einfach nur in ihren Betten lagen und von irgendeinem Leiden oder vom Hunger dahingerafft wurden. In jedem dieser Zimmer musste ich an Mama und ihre bitteren Klagen darüber denken, dass es ihr an allem fehle.
Während Dr. Sadie Husten und Fieber behandelte, Geschwüre aufschnitt und Wunden nähte, bemühte ich mich, den Kindern ein Lächeln zu entlocken. Ich nahm sie auf den Schoà und spielte mit ihnen Fingerreime oder Guck-guck. In ihrer Gegenwart beschlich mich Scham darüber, dass ich die Chrystie Street hinter mir gelassen hatte und nun so viel Bequemlichkeit genoss.
Wir arbeiteten bis in den späten Nachmittag. SchlieÃlich legte Dr. Sadie eine Pause ein und setzte sich auf einem Dach an einen Schornstein. Sie zog zwei Ãpfel aus der Tasche, reichte mir einen und riet: »Lehn dich mit dem Rücken gegen die Ziegel. Das hält warm.« Der Tag hatte mit hellem, warmem Sonnenschein begonnen, doch die kalten, feuchten Winde eines späten Novemberabends nahten
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