Der verbotene Garten
schon.
Wenn Dr. Sadie spürte, dass ich auf ihre Hände sah, faltete sie diese rasch im SchoÃ. Sie waren spröde und rissig von der harschen Seife, in jeder Pore zeigte sich der Kampf zwischen Wissenschaft und Schönheit. Die Sorge um ihr ÃuÃeres war Dr. Sadie deutlich anzumerken, auch wenn sie sich sehr bemühte, die Welt vom Gegenteil zu überzeugen. Offenbar litten selbst die vernünftigsten Frauen unter dem Diktat der Eitelkeit.
»Wir haben noch eine Station vor uns, dann sind wir fertig.«
Ich nickte, biss in meinen Apfel und schluckte. »Gut,« sagte ich und hoffte, dass ich nicht so erschöpft aussah, wie ich mich fühlte. Ich lieà den Apfel an seinem Stiel kreisen und dachte an meine Tage auf der Bowery. Mochte mich mein schlechtes Gewissen wegen der Annehmlichkeiten, die ich bei Miss Everett genoss, auch drücken, so wollte ich doch niemals wieder zurück auf die StraÃe und um Pennys betteln.
Dr. Sadies letzte Visite führte uns zu einer Katherine Tully.
»Kommen Sie herein«, beantwortete eine schwache Stimme unser Klopfen.
In der kleinen Kammer war es kalt und dunkel, und es stank nach abgestandenem Urin. Miss Tully lag in ihrem Bett und trug scheinbar jeden Fetzen, den sie noch besaÃ, am Leib. Ihre FüÃe waren in zwei Patchworkdecken gewickelt, doch sie zitterte trotzdem so heftig, dass der Bettrahmen vor Mitgefühl erbebte.
Dr. Sadie holte eine Schachtel Streichhölzer aus ihrer Tasche und reichte sie mir. »Zünde eine Lampe an, Moth. Machen wir es Miss Tully ein wenig behaglicher.«
Während ich eilig den Docht entfachte, bevor das letzte Tageslicht aus dem Zimmer schwand, setzte sich Dr. Sadie auf das Bett und sprach sehr ruhig mit Miss Tully. Dr. Sadie legte die Finger um das dünne Handgelenk ihrer Patientin und fühlte den Puls.
In dem schwachen Licht war es schwer, Miss Tullys Alter oder ihr Leiden zu erkennen, doch die Krankheit setzte eindeutig alles daran, Miss Tully das bisschen Leben, das noch in ihr war, zu nehmen. Dr. Sadie und Miss Tully verhielten sich weniger wie Doktor und Patientin, sondern mehr wie Freundinnen, und Miss Tully musste sogar lachen, als die gute Dr. Sadie einen Scherz darüber machte, dass sie beide das Los einer Junggesellin teilten.
»Wir sind schon zwei Einspänner, was?«, sagte Dr. Sadie mit einem Zwinkern.
»Ich wollte es gar nicht anders haben«, erwiderte Miss Tully seufzend. »An Ihrer Lage hat sich nichts geändert?«
Dr. Sadie schüttelte den Kopf, hob ein Medizinfläschchen vom Nachttisch und hielt es gegen das Licht. »Sie haben aber nicht sehr viel von meiner Arznei genommen«, sagte sie. »Haben Sie die Anweisungen nicht gelesen?«
»Oh doch«, erwiderte die junge Frau und lächelte kläglich. »Sehr gut sogar.« Sie bedeutete Dr. Sadie, ihr die Flasche zu reichen, und wies auf das Etikett: »Nur nach dem Essen einzunehmen.«
»Verstehe«, sagte Dr. Sadie, erhob sich und ging zum Schrank.
»Sparen Sie sich die Mühe«, sagte Miss Tully. »Dort werden Sie nichts finden.«
»Katherine«, seufzte Dr. Sadie, »dann haben Sie vermutlich auch keine Kohle im Haus?«
»Nein â¦Â«
»Warum haben Sie bei meiner letzten Visite nicht gesagt, wie schlecht es um Sie steht?«
»Lassen Sie mir doch meinen Stolz«, erwiderte Miss Tully.
Dr. Sadie leerte ihre Taschen bis auf den letzten Cent und wies mich an, zum nächsten Lebensmittelgeschäft zu gehen und zu kaufen, was ich tragen konnte. »Einen Beutel Reis und eine groÃe Tüte Haferflocken ⦠Brot, Milch, Ãpfel, Bohnen und zwei Fleischpasteten, egal welche. Der Ladeninhaber heiÃt Mr. Hannigan. Sag ihm, dass heute noch Kohle geliefert werden muss. Und dass du von Dr. Sadie kommst. Dann wird er sich darum kümmern.«
Kaum war ich mit den Einkäufen zurückgekehrt, brachte ein Laufbursche einen Eimer Kohle. Mit einem Feuer im Herd wirkte die Kammer gleich viel heiterer. Ich schürte die Flammen, während Dr. Sadie ihrer Patientin ein Abendessen aus Haferflockensuppe und Ãpfeln bereitete. Wir blieben an ihrer Seite, bis sie alles aufgegessen hatte.
Nachdem Dr. Sadie ihr noch einen Löffel Medizin in den Mund geschoben hatte, setzte sie sich auf das Bett und kämmte Miss Tully mit einer silbernen Bürste, die in der Schublade des Tischchens gelegen hatte, sorgsam und liebevoll das Haar. Dr. Sadie behandelte
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