Der verbotene Garten
die junge Frau wie eine Königin.
»Ich hatte ein Kind«, wandte sich Miss Tully an mich, während ihr Dr. Sadie das Haar zu einem lockeren Zopf flocht. »Ein winziges Ding, es hat nur zwei Tage gelebt. Ich hatte das Mädchen Olivia genannt, nach meiner Mutter. Es wäre zu einer Schönheit herangewachsen, so wie du.«
»Danke schön«, sagte ich und hielt mich an ihrem letzten Satz fest, damit ich mir Miss Tully nicht auch noch mit einem sterbenden Baby in den Armen vorstellen musste.
Ich hatte weder familiäre noch freundschaftliche Bande zu ihr, und daher sah ich ihre Traurigkeit sehr deutlich. Jedes noch so kleine Zögern in ihrem Gebaren â beim Atmen, beim Sprechen â erweckte in mir das überwältigende Verlangen, zu ihr zu gehen und ihr zu sagen: Es wird alles gut . Auch wenn es das nicht würde.
Als wir Miss Tully verlieÃen, war es drauÃen finster. Dr. Sadie schimpfte mit sich selbst bei jedem Schritt. »Ich hätte letztes Mal schon in die Schränke schauen sollen. Ich hätte dafür sorgen müssen, dass sie Vorräte im Haus hat.«
Es begann zu regnen, die Tropfen fielen immer heftiger, und wir hatten nichts, um uns vor dem Schauer zu schützen.
»Zu mir ist es näher als zu Miss Everett«, rief Dr. Sadie über das Geprassel hinweg. »Warten wir lieber dort, bis es aufhört.«
Ihre Mansarde lag über der Stätte, an der Dr. Sadie ausgebildet worden war, und nur wenige Schritte von Miss Keteltasâ Anwesen entfernt. Sooft ich die StraÃe auch auf und ab gewandert war, dieses Gebäude hatte ich niemals bemerkt, nicht einmal das Schild über dem Portal: SPITAL DER STADT NEW YORK FÃR BEDÃRFTIGE FRAUEN UND KINDER.
»Ich bitte um Entschuldigung, dass mein Quartier so klein ist«, sagte Dr. Sadie, lieà die Ofentür quietschen und stocherte in einem frischen Feuer herum. »Ich habe selten Besuch.«
Ich hatte an ihrem Zimmer nichts auszusetzen. Dort waren lauter schöne Dinge â ein Korb mit Ãpfeln, ein Setzkasten mit gestreiften und spiralförmigen Muscheln, ein weiÃes Batistnachthemd über einem Stuhl. Ringsherum waren Bücher verstreut, sie standen in Regalen, belegten den Schreibtisch, die meisten jedoch stapelten sich zu groÃen schiefen Türmen auf dem Boden.
An der Wand neben dem Bett hingen einige recht morbide Zeichnungen: Bilder von Armen und Beinen, Körpern und Gesichtern, die der Zeichner aufgeschnitten hatte, damit man ins Innere schauen konnte. Auf dem Sims und zwischen den Büchern standen GefäÃe mit präparierten Tieren. Aufgeblasene Frösche und eingerollte Schlangen schauten mich durch trübes Glas an, die Augen glühten grün und gelb und rot.
»Möchtest du etwas essen?«, fragte Dr. Sadie und streckte sich nach einer Dose Kekse hoch auf dem Regal.
»Ja, gern«, erwiderte ich. Ich hatte, bis auf den Apfel, den ganzen Tag noch nichts gehabt.
Als sie nach der Schachtel fasste, entdeckte ich die Ratte, die gleich daneben saÃ. Ich wollte schon kreischen, doch da packte Dr. Sadie das Tier am Schwanz und setzte es zur Seite. Es blieb steif und ruhig, seine Glasaugen funkelten. Dr. Sadie öffnete die Dose und bot mir zuerst an.
»Nimm so viele, wie du magst.«
Jetzt sah ich das Skelett, das in einer Ecke hing. Es wurde von Drähten zusammengehalten und zitterte ganz sachte, als Dr. Sadie vorbeiging. Ich hätte schwören können, dass es mich aus den Augenhöhlen anstarrte.
Dr. Sadie bemerkte meinen Blick. »Oh, das ist bloà Miss Jewett, achte nicht auf sie.« In ihrer Stimme schwang ein wenig Stolz mit, fast so, als hätte Dr. Sadie das Mädchen eigenhändig in das Knochenwesen dort verwandelt.
»Mr. Dink hat sie mir geschenkt, weil ich eine junge Schaustellerin aus seinem Palast der Illusionen gerettet habe«, erklärte sie. »Das Mädchen hatte die Stimme verloren, und meine Aufgabe war es, sie ihm zurückzugeben. In solchen Fällen ist regelmäÃiges Gurgeln mit Salzwasser sowie Zitrone und Honig angezeigt.«
»Wer war es denn?« Mich interessierte die Identität der Darstellerin weit mehr als Dr. Sadies Vorgehen bei Kehlkopfentzündungen.
»Oh, ihren Namen sollte ich für mich behalten«, sagte Dr. Sadie und schüttelte den Kopf. »Mr. Dink ist sehr diskret, was seine Schausteller und sein Metier betrifft.« Um meine offensichtliche Enttäuschung
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