Der verbotene Kuss
Waffen mehr trug und sich im Schattenland nicht verteidigen konnte. Aber dann dachte sie wieder an Jack Husk. Sie musste ihn wiedersehen, musste sich vergewissern, ob das gestern alles wirklich geschehen war, und deshalb verriet sie niemandem etwas von dem Messer.
Sie duschte, trocknete sich das Haar ab, band sich das grüne Tuch um, band es wieder ab und band es nochmals um, nachdem sie schließlich entschieden hatte, es doch zu tragen. Sie zog eine Jeans und ein Sweatshirt über und schob das Stilett ihrer Großmutter in die Gesäßtasche. Dann trank sie eine Tasse Kaffee und rauchte eine Zigarette, putzte sich dreimal die Zähne, um auch noch den letzten Rest vergilbten Geschmacks abzuschrubben, legte Lippenstift auf, wischte ihn wieder ab, weil sie auf einen Kuss hoffte, und verzog das Gesicht, weil diese Hoffnung absurd war. Danach hätte sie beinahe das Haus verlassen. Aber im letzten Moment zog sie sich die Jeans wieder aus und dafür ein altes Kleid an, das sie in dem billigen Laden gekauft und noch nie getragen hatte. Es war aus apfelgrüner Kimonoseide mit einem geriffelten Muster geschneidert, hatte einen Mandarinkragen und vorn eine Reihe schwarzer Knöpfe, die von oben bis nach ganz unten reichten. Eine Minute lang stand sie vor dem Spiegel und schaute sich an, wie die Seide hin- und herschaukelte, wenn sie die Hüften schwenkte. Schließlich zog sie ihre schwarzen Stiefel an und eilte zur Tür hinaus.
Jack Husk wartete vor der Weihnachtsbaumschule auf sie und pfiff, als er sie entdeckte. »Wahnsinn, das Kleid«, sagte er und ließ den Blick an der Knopfreihe hinauf- und hinunterwandern.
»Danke«, sagte Kizzy und errötete so stark wie am Tag zuvor in der Schule. Sie musste sich wieder von Neuem an ihn gewöhnen. Also nahm sie seine Schönheit nur in kleinen Schlücken auf, als wäre sie zu heiß, um sie auf einmal hinunterzustürzen. Ein schüchterner Blick verriet ihr, dass Jack Husk seine neuen Schulbücher offensichtlich in einem Picknickkorb trug. »Was ist das?«, erkundigte sie sich.
Er hielt den Korb in die Höhe und lächelte schelmisch wie ein Gnom. »Frühstückspicknick«, erklärte er. Unter den Griffen des Korbs lag eine gefaltete Karodecke. »Hast du Lust, mitzukommen?«
»Was, jetzt ? Und die Schule?«
Jack Husk zuckte mit den Schultern. »Bin nicht gerade ein großer Fan der Schule.«
»Ich auch nicht.«
»Gut. Dann kommst du also mit.« Er hielt ihr den Arm in einer altmodisch höflichen Geste hin, und damit war es für Kizzy keine Frage mehr, wie sie den Morgen verbringen würde. Sie hakte sich bei Jack Husk ein und legte die Finger vorsichtig auf den Samtärmel. Während sie neben ihm ging, fiel ihr auf, dass der Hund des alten Mannes nicht an seinem Stammplatz auf der Veranda saß.
»Ist gestern mit dem Hund alles gut gegangen?«, fragte sie.
»Sicher«, antwortete er. »Gab keine Probleme. Gibt es hier einen Park in der Nähe?«
Kizzy schüttelte den Kopf. »Nur den Friedhof.«
»Ach, gut, das dürfte reichen, oder?«
Der Friedhof lag direkt vor ihnen hinter einem ordentlichen Zaun. Kizzy ging jeden Tag daran vorbei, aber sie war seit Jahren nicht auf dem Friedhof gewesen, nicht mehr seit ihrer Kindheit, als sie dort herumgeschlichen war und den Wortfetzen von Geistern gelauscht hatte, die ein eisiger Wind aus der anderen Welt herangeweht hatte. Es war kein gruseliger Friedhof, es gab keine moosüberzogenen Engel, die wundersame Bluttränen weinten, keine Grüfte, Flüche und Ruinen. Hier waren keine Dichter oder Kurtisanen beerdigt; keine Vampire schlummerten unter der Erde. Es war einfach nur eine Sammlung von rechteckigen Steinen, die in Reih und Glied standen. Sogar die Toten, die hier verweilten, sprachen nur über Langweiliges, zum Beispiel darüber, ob sie den Herd angelassen hatten, als sie starben.
Aber es musste auch gar kein legendärer Friedhof in Paris sein, Kizzys Fantasie lief auch so auf Hochtouren. Sie stellte sich vor, wie sie es hinterher Evie und Kaktus erzählen würde. Ein Picknick auf dem Friedhof mit Jack Husk! Voller Freude würden sie die Augen aufreißen und alles bis ins kleinste Detail wissen wollen. Vor allem, ob er sie geküsst hatte. Sie warf ihm einen verstohlenen Blick zu und erwischte ihn dabei, wie er auf ihre Lippen schaute. Daraufhin sah sie sofort zur Seite, errötete erneut und schaffte es, gerade noch und hoffentlich lässig genug, auf seine Frage: »Okay, ja« zu antworten.
Sie traten durch das Friedhofstor, Arm in Arm in
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