Der verbotene Kuss
immer war Mahzarin nicht gekommen.
Mihai wurde zu einem Gespenst. Er saß stundenlang auf Dächern und Kirchtürmen und reiste durch Visionen uralter Zeiten. Nebel umwogte seine stille Gestalt, und manchmal prasselte Regen auf sein Haar nieder. Die Vögel beachteten ihn nicht und ließen sich in ihrem Alltag auf den Dächern nicht stören, und manchmal hockten sie sogar minutenlang auf ihm, ehe er sie bemerkte und abschüttelte.
Und dann kam ein Abend im Winter, an dem der Himmel sternenlos schwarz und kalt wie Druj-Fleisch war. Er lehnte an einem Steintürmchen und sein Kinn ruhte auf seiner Brust, als er einen Lufthauch spürte, wie ihn Flügel verursachten, und etwas setzte sich auf sein Knie. Er zuckte, um das Tier zu verscheuchen, aber es ließ sich nicht vertreiben, flatterte und landete erneut. Mihai hob den Kopf, betrachtete den Vogel und riss die Augen auf. Es war keine Taube oder Krähe, die auf dem Knie saß, sondern ein Adler, der die weiten Schwingen halb ausgebreitet hatte. Die Krallen waren dick wie Finger, und die blauen Augen leuchteten hell und blau wie Eis. Um den gefiederten Hals hing ein Mondsteinamulett, und daran waren die letzten Reste des persimonenroten Zopfes gebunden, den die Druj-Königin ihrem Liebling vor vielen Jahren abgeschnitten hatte.
Alles in Mihai spannte sich an, zog sich zusammen und erstarrte: sein Herzschlag, sein Atem, sein Leid, seine schwindende Hoffnung. Er sah den Adler an, und der erwiderte den Blick. Ein Moment verstrich, ehe sich Mihais Verstand aus der Starre löste und ihm der Kopf zu schwirren begann. Abermals breitete der Adler die Flügel aus und faltete sie dann sorgfältig zusammen.
Und der Adler wartete.
Es waren fünfhundert Jahre vergangen, seit Mihai zuletzt einen anderen Druj aus einem Tier-Cihtra zurückgeflüstert hatte, doch er entsann sich der Worte genau. Sie blieben ihm im Hals stecken, und die Bedeutung dieses Augenblicks drohte ihn zu überwältigen. Die Königin der Druj nahm keine andere Gestalt an. Nie. Sie überließ ihr Schicksal und ihren Leib nicht den Launen und dem Flüstern anderer. Dieses Cithra war ein Opfer, ein Geschenk.
Mihai holte tief Luft und machte sich bereit, die uralten Worte zu sprechen. Er hob die Arme. Sie zitterten. Nach all diesen Jahrhunderten erinnerten sie sich noch an die Formen von Mahzarins Körper, an das Gewicht und die Wärme, und wenn sie schimmernd aus den Federn ihres Adler-Cithra erscheinen würde, wäre er zur Stelle, um sie aufzufangen.
– ANMERKUNG DER
AUTORIN –
S eit langer Zeit bin ich von Christina Rossettis außergewöhnlichem Gedicht »Goblin Market« (Koboldmarkt) fasziniert, was unter anderem zu Bildern, Koboldmasken und – um es mal so zu nennen – einer Bühnenadaption an der Stanford University geführt hat. Jetzt ist aus dieser Anregung eine Erzählung entstanden, die mir beim Schreiben viel Spaß bereitet hat. Auch die Britische Kolonialherrschaft in Indien, die Konzepte der Hölle in anderen Kulturen und die alte persische Religion des Zarathustrismus waren Samenkörner der Inspiration, allerdings nur Samenkörner – ich bin keine Wissenschaftlerin, und ich habe mir die besten Rosinen aus dem Kuchen der Geschichte gepickt, um daraus etwas Neues zu erschaffen, wobei ich lediglich das verwendet habe, von dem mein Geist angefeuert wurde.
Manche Leser wundern sich vielleicht, warum in »Die Würze bezaubernder kleiner Flüche« unschuldige Kinder und sogar Babys in der Hölle landen. Die Antwort liegt, so wie ich es verstanden habe, darin, dass das hinduistische Konzept von Himmel und Hölle nicht in Ansätzen so einfach und so schwarz-weiß malerisch zu verstehen ist wie das jüdisch-chr istliche. Ich kann das hier nicht annähernd umfassend genug ausführen, doch beruhte meine Idee auf der Vorstellung, dass der Weg zum Himmel für eine Seele sehr lang und steinig ist und durch viele tugendhafte Leben führt. Die »Hölle« ist in dieser Hinsicht nicht vorrangig ein Ort, an dem die Bösen bestraft werden, sondern die Stelle, wo ein jeder neu erschaffen wird und den selbst die Unschuldigen durchlaufen müssen. Dementsprechend kann man Yama nicht mit dem Teufel gleichsetzen, sondern er ist ein Totenrichter, und das Feuer ist ein Ort der Läuterung.
Im zarathustrischen Glauben bedeutet das Wort »druj« das Gegenteil von »asha«, was die Wahrheit und Ordnung von Gottes Schöpfung ist; »druj« bedeutet demnach Chaos und Falschheit. Es gibt zwar auch im Zarathustrismus Legenden
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