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Der verbotene Kuss

Der verbotene Kuss

Titel: Der verbotene Kuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laini Taylor
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sie sich immer mehr – wie Butter, die weich wird, bevor man Zucker hinzufügte, der erste Schritt, um etwas süß zu machen. Zum ersten Mal erlebte sie, wie zwei Körper verschmelzen konnten, wie ihr Atem sich im Rhythmus angleichen konnte. Sie war regelrecht hypnotisiert. Berauscht.
    Und sie wollte mehr.
    »Sie haben Zähne«, wisperte ein Geist. Kizzy hörte nicht hin.
    »Sie haben Nektar«, sagte ein anderer, matt und voller Sehnsucht. Kizzy war ein wenig kalt, aber sie beachtete es nicht.
    »Hungrig?«, fragte Jack Husk, während sie in eine weitere Grabreihe einbogen.
    Kizzy zuckte mit den Schultern. Im Augenblick stand ihr der Sinn eigentlich nicht nach Essen. Aber die Karodecke an einer ruhigen Stelle auszubreiten, sich zu setzen und sich neben Jack Husk zurückzulehnen und auf die Ellbogen zu stützen, das gefiele ihr durchaus. Es gelang ihr kaum mehr, den Blick von seinen Lippen abzuwenden. Ihre eigenen presste sie zusammen, weil sie wahnsinnig kribbelten. Sie erinnerte sich daran, einmal auf einen kleinen Cousin aufgepasst zu haben, und zwar an dem Tag, an dem er seine Zunge entdeckt hatte. Ständig hatte er damit herumgewackelt und sie angefasst, alle neuen Laute von sich gegeben, die man mit der Zunge machen konnte, hatte versucht, sie so weit herauszustrecken, dass er sie sehen konnte. Er war völlig besessen gewesen von seinem neuen Anhängsel. Heute fühlte Kizzy das Gleiche, was ihre Lippen betraf, als würde sie gerade erst herausfinden, wozu sie eigentlich da waren, nur hoffte sie, sich dabei ein wenig dezenter zu benehmen als ihr kleiner Cousin damals.
    »Komm mit nach da drüben«, sagte Jack Husk und deutete mit dem Kopf auf eine ferne, stark überwucherte Ecke des Friedhofs. Sie machten sich dahin auf, und Kizzy bemerkte kaum die Gräber, an denen sie vorbeigingen, so sehr war sie von diesem neuen Gefühl eingenommen, Arm in Arm, eng umschlungen wie Liebende, dahinzuschlendern. Am Ende der Reihe fiel ihr etwas auf.
    Sie ging daran vorbei; es dauerte einen Moment, bis sie es begriffen hatte, aber ein paar Schritte weiter drehte sie sich um, sah es sich nochmals an und erkannte es.
    Das dunkle Grün des verwilderten Friedhofs wurde von einem braunen Fleck unterbrochen, der wie eine Wunde wirkte. Er schien einen Kreis um ein bestimmtes Grab zu zeichnen, und Kizzy sah auf den Grabstein, weil sie wissen wollte, wem es gehörte, konnte den Namen jedoch nicht entziffern. Jack Husk zog sie sanft weiter in die andere Richtung. Als sie ihn an seinem Samtärmel zupfte und ihn zurückzog, war sie selbst von sich überrascht. »Dort drüben«, sagte sie, »ich möchte mir nur schnell etwas angucken.«
    »Was denn?«, fragte er und folgte ihr.
    »Hier.« Sie blieb vor dem Grab stehen, auf dem nicht einmal Gras wuchs und las den Namen auf dem Stein. Amy Ingersoll . »Die habe ich gekannt«, stellte Kizzy überrascht fest.
    »Ach ja?«, meinte Jack Husk.
    Kizzy nickte. »Ich war gerade erst auf die Schule gekommen. Ich glaube, sie auch, aber ich habe sie kaum gesehen, weil sie aus dem Unterricht genommen wurde. Sie war krank. Sie …« Kizzy sprach nicht weiter. Beinahe hätte sie es ausgesprochen. Sie hat sich zu Tode gehungert. Aber angesichts dieses braunen Grabs fielen ihr andere Worte ein. Sie ist völlig abgemagert.
    »Traurig«, sagte Jack Husk. »Sie war so alt wie du jetzt, als sie starb.«
    »Ja«, sagte Kizzy und dachte an das Bild der ausgemergelten Amy Ingersoll, das sie in der Zeitung gesehen hatte. In dem ausgezehrten Gesicht hatten die Augen riesig gewirkt. Es hatte eine Schulversammlung gegeben, in der Essstörungen erläutert worden waren. Ein Arzt hatte über Magersucht und Bulimie gesprochen. Danach hatten sich Kizzy und Evie zufrieden in die Haut über ihren Hüften gekniffen und makaber gescherzt, sie könnten durchaus ein wenig Magersucht gebrauchen, und Kaktus hatte gesagt, sie könnten ja damit anfangen, auf Cola Light umzusteigen.
    »Ich frage mich, warum hier kein Gras wächst«, sagte Kizzy und wünschte sich eine andere Erklärung als die, die ihr gerade durch den Kopf ging. Bestimmt gab es in dieser langweiligen Stadt all diese wilden Dinge nicht, an die ihre Familie glaubte. Solche Geschichten trugen sich an fernen Orten zu, auf Kopfsteinpflaster und auf Höfen uralter Kirchen, wo es richtig spukte.
    »Verflucht«, sagte ein Geist gleich neben Kizzys Ohr. Sie schauderte.
    Jack Husk spürte es, ließ ihre Schulter los und zog sich die Samtjacke aus. »Du frierst ja«, sagte er.

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