Der verbotene Kuss
und lugten ihr unter den Rock, um herauszufinden, ob das, was man behauptete, stimmte. Der Viscount und James standen vor Felicity und lasen den Text auf der Tafel, die vor der eindrucksvollen Figur Bonapartes angebracht war.
Die beiden hätten sich sehen sollen. Ihre Haltung war fast gleich. Jeder hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt und das Gewicht auf ein Bein verlagert, während das Knie des anderen leicht gekrümmt war. Sie sahen sich sogar etwas ähnlich. Man hätte denken können, es handele sich bei ihnen um Vater und Sohn.
Felicity schluckte. Plötzlich empfand sie ein Sehnen. Ian und ein Sohn. Ihrer beider Sohn. Der Gedanke gefiel ihr, und ihr wurde warm ums Herz. Wie würde Ian als Vater sein? Seinem heutigen Betragen nach zu urteilen, musste er ein wundervoller Vater sein.
Er las laut den in Französisch geschriebenen Text vor und übersetzte ihn für James. Seine Aussprache war ausgezeichnet, viel besser als ihre eigene. Aber schließlich hatte er auf dem Kontinent gelebt und viele Jahre lang für die Engländer spioniert, oder sonst etwas in dieser Richtung getan. Dieser Gedanke ernüchterte Felicity. Sie wusste nicht, was der Viscount auf dem Kontinent gemacht hatte, da er nicht darüber reden wollte. Er wollte über gar nichts reden . . .
Sie dachte an das Gespräch vom vergangenen Abend. Die ganze Nacht lang hatte sie sich im Bett gewälzt und sich gefragt, welche der Neuigkeiten, die sie erfahren hatte, stimmen mochten. Ian konnte seine Tante nicht vergewaltigt haben, aber denkbar war, dass er sie verführt hatte. War er zu einem so selbstsüchtigen Verhalten fähig? Vielleicht jetzt nicht mehr. Aber mit neunzehn Jahren? Sie wollte das genau wissen. Sie musste das wissen. Vielleicht, wenn sie ihn einfach fragte . . .
„Wie kommt es, dass Sie so gut Französisch sprechen?“ fragte James plötzlich.
Ian setzte die hölzerne, ausdruckslose Miene auf, die Felicity so gut kannte, und betrachtete die Figur. „Ich habe mehrere Jahre auf dem Kontinent verbracht.“
„Warum?“
Er sah den Jungen an und zuckte mit den Schultern. „Ich war im Krieg. “
Felicity staunte noch immer darüber, dass er tatsächlich zugegeben hatte, im Krieg gewesen zu sein, als James äußerte: „Lissy hat jedoch gesagt, Sie hätten über Ihre Kriegszeit gelogen.“
„James!“ Sie ergriff ihn an der Schulter und drehte ihn zu sich herum. „Das habe ich nicht gesagt!“
„Das hast du in der Zeitung geschrieben!“ Gekränkt schaute er sie aus großen Augen an. „Ich erinnere mich genau!“
Sie seufzte. „Ach, das! Ich wusste nicht, dass du meine Artikel liest.“
„Wir alle tun das“, erwiderte er. „Nun, die Drillinge tun das nicht, aber ich und Mrs. Box und Joseph und die Köchin lesen deine Kolumne. Wir lesen sie jeden Morgen, während du und unsere Brüder noch schlaft.“
Diese Neuigkeit erschreckte Felicity. Sie hatte nie daran gedacht, dass ihre Leserschaft sich auf ihre Geschwister und ihre Angestellten erstrecken könne. Sie wusste nicht, ob sie schockiert oder stolz sein sollte.
Gleichviel, sie musste James zur Ordnung rufen. „Was ich über Lord St. Clair geschrieben habe, war ein Fehler. Ich war falsch informiert. Ian hat seinem Land gedient.“ „Ian?“ wiederholte James verdutzt.
Sie stöhnte auf. „Lord St. Clair. Er hat nicht gelogen. Ich habe mich geirrt.“
James sah verwirrt aus. „Aber du irrst dich doch nie. Jedermann sagt das. Lord X weiß Bescheid, heißt es. Er kennt die Wahrheit.“
Sie seufzte. Um Himmels willen, was hatte sie jetzt ins Rollen gebracht? Als sie den letzten Artikel geschrieben hatte, war ihr nicht in den Sinn gekommen, welch weit reichende Konsequenzen er haben könne.
„Ich weiß, was alle Leute sagen“, erwiderte sie. „Ich versuche, die Wahrheit zu schreiben. Aber ich mache Fehler. Niemand ist perfekt. Du musst nicht immer glauben, was du liest oder hörst. Manchmal sind solche Sachen übertrieben oder schlichtweg falsch. “
Sie selbst musste diese Worte beherzigen und Lady Brumleys Enthüllungen mit einiger Vorsicht behandeln, und Mr. Lennards mit noch größerer. Sie blickte zu Lord St. Clair und sah, dass er sie misstrauisch beobachtete. Bis alle Fakten ihr geläufig waren, durfte sie keine Schlussfolgerungen ziehen. Dieses Mal nicht.
Sie wandte dem Bruder wieder die Aufmerksamkeit zu. „Jetzt entschuldige dich bei Seiner Lordschaft. Es war unhöflich, den Klatsch zu erwähnen, ganz gleich, was du gedacht hast.“
Gebührend
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