Der verbotene Kuss
geklungen haben.“
„Oder wie ein Mann, der nie Kind war.“
Er richtete den Blick auf Felicity und hielt ihren mit seinem fest. In diesem kurzen Moment erkannte sie in seinen Augen ein so großes Sehnen, dass sie sich erstaunt fragte, warum ihr das noch nicht früher aufgefallen war. Dann wurde seine Miene ausdruckslos, und er wandte den Blick ab. „Meine Erziehung hat sich als vorteilhaft für mich herausgestellt. Sie hat es mir ermöglicht, spätere Ereignisse leichter zu ertragen.“
„Und was ist mit Ihrer Mutter?“ fragte Felicity leise. „Hat Sie den Standpunkt Ihres Vaters gebilligt?“
Ian schwieg so lange, dass Felicity schon glaubte, er werde ihr nicht antworten. Dann seufzte er. „Wer weiß? Meine Mutter hat sich nie dazu geäußert. Sie hatte Angst, meinen Vater zu verärgern. Meine Eltern haben geheiratet, weil er ihr Vermögen brauchte, damit er die Schulden seines Vaters begleichen konnte. Die Ehe wurde zwischen ihm und der in Spanien lebenden Familie meiner Mutter arrangiert. Meine Mutter hatte Angst vor ihm und ließ es zu, dass er ihr Leben und meins beherrschte, bis zu dem Tag, an dem sie starb.“ Bei dem Gedanken, dass Ian als Kind so wenig Liebe erfahren hatte, spürte Felicity einen Kloß im Hals. „Wann ist Ihre Mutter gestorben? Wie ist sie gestorben?“
„Warum so viele Fragen?“ Ian zog eine Augenbraue hoch. „Mehr Wasser auf Ihre Mühle?“
Felicity ignorierte den Hieb. „Nein, wirklich nicht. Neuerdings bin ich sehr vorsichtig, was das Material für meine Kolumne betrifft. Ich habe aufgehört, über die Lennards zu schreiben. Wissen Sie, das Oberhaupt der Familie ist ein arroganter Pinsel, der mir nur Ärger macht, wenn ich über ihn schreibe.“
„Vergessen Sie das nie“, erwiderte Ian warnend, lächelte jedoch.
„Also, was ist? Werden Sie mir jetzt etwas über den Tod Ihrer Mutter erzählen?“
Ian zuckte mit den Schultern. „Um ein großes Geheimnis handelt es sich dabei nicht. Als ich siebzehn war, brachen in einer benachbarten Stadt die Pocken aus. Mein Vater glaubte nicht an die Wirkung von Impfungen. Er meinte, sie würden die Krankheit nur erzeugen, statt sie zu verhindern. In der Schule hatte ich jedoch von Jenners Impfstoff gehört. Daher habe ich unseren Hausarzt zurate gezogen.
Seiner Empfehlung folgend, ließ ich hinter Vaters Rücken alle auf dem Besitz lebenden Leute impfen.“
Bei keinem der siebzehnjährigen Jünglinge, die Felicity gekannt hatte, war vorstellbar, dass er eine solche Initiative ergriffen hätte. Wie erstaunlich, dass Lord St. Clair das getan hatte. Zweifellos hatte er durch seine Entscheidung Hunderten von Menschen das Leben gerettet.
„Unglücklicherweise weigerte sich meine Mutter wie gewöhnlich, sich gegen meinen Vater zu stellen. Sie ist an der Krankheit gestorben.“ Ian schaute vom Bett auf, und im schwachen Kerzenlicht schimmerten seine Augen wie Onyx. „Und Vater, dieser sture alte Narr, hat mir die Schuld an ihrem Tod gegeben. Er sagte, ich hätte die Pocken durch die Impfungen auf den Besitz eingeschleppt. “
„Wie ungerecht!“ Bei dem Gedanken, dass der junge Ian gezwungen war, die Schuld am Tod seiner Mutter auf sich zu nehmen, krampfte Felicity sich das Herz zusammen.
Ian zuckte mit den Schultern. „Mein Vater hatte sehr präzise Vorstellungen von Gut und Böse. Ich hatte eine Todsünde begangen, weil ich ohne sein Einverständnis gehandelt hatte. Das hat er mir nie verziehen.“
„Ist das der Grund, warum Sie das Land verlassen haben?“ flüsterte Felicity unbedacht. „Wollten Sie Ihrem Vater und seinen Ungerechtigkeiten entkommen?“
Ians Miene verschloss sich. „Ja, etwas in dieser Richtung.“ Ehe Felicity etwas äußern konnte, schaute er auf ihren Bruder und sagte knapp: „Glauben Sie, dass es sicher ist, ihn jetzt allein zu lassen?“
Sie hätte sich denken können, dass Lord St. Clair ihre letzte Frage nicht beantworten würde. Selbst nach all der Zeit, die sie mit ihm verbracht hatte, vertraute er ihr nicht.
„Was meinen Sie? Können wir den Jungen jetzt allein lassen?“
Seufzend straffte sie die Schultern. „Ich glaube, ja. Er hat nie mehr als einen Albtraum.“
Ian ließ Williams Hand los und stand auf. „Dann könnten wir jetzt ein Glas Wein trinken.“
Wein? Felicity konnte jetzt wirklich nicht an Wein denken. Sie konnte nur daran denken, welch armer Junge Ian gewesen war, und zu welch gequältem Mann er sich entwickelt hatte, zu jemandem, der nicht einmal mit seinen Freunden
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