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Der verbotene Ort

Titel: Der verbotene Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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Geschichte, Sir.«
    »Nichts ist schlimmer als alte Geschichten, das wissen Sie. Alte Stümpfe treiben immer wieder aus, das kann jahrhundertelang so gehen. Ein wenig Nachsicht für Radstock, Sie können das nicht verstehen.«
    »Ich kann. Ich kenne das Drama von Highgate.«
    »Ich spreche nicht von der Ermordung des Wanderers.«
    »Ich auch nicht, Sir. Wir sprechen vom historischen Highgate, hundertsechsundsechzigtausendachthundert Leichname, einundfünfzigtausendachthundert Gräber. Wir sprechen von den nächtlichen Vampirjagden der siebziger Jahre und auch von Elizabeth Siddal.«
    »Sehr gut«, sagte der Superintendent nach einem Schweigen. »Nun, wenn Sie das alles wissen, dann müssen Sie auch wissen, dass Radstock beim letzten Einsatz mit dabei und dass er damals noch sehr unerfahren war. Halten Sie ihm das zugute.«
    Die Verstärkung war eingetroffen, Radstock übernahm deren Leitung. Ohne ein Wort klappte Danglard das Telefon zu, steckte es seinem britischen Kollegen in die Tasche und ging zu Adamsberg zurück, der, an ein schwarzes Auto gelehnt, auf den niedergeschlagenen Estalère einzureden schien.
    »Und was werden sie damit machen?«, fragte Estalère mit bebender Stimme. »Zwanzig Personen ohne Füße finden, um sie ihnen wieder anzukleben? Und dann?«
    »Zehn Personen«, korrigierte Danglard. »Bei zwanzig Füßen macht das zehn Personen.«
    »Richtig«, gab Estalère zu.
    »Aber wie’s aussieht, sind es nicht mehr als achtzehn. Wären also neun Personen.«
    »Einverstanden. Aber wenn die Engländer ein Problem hätten mit neun Personen ohne Füße, dann wüssten sie es vermutlich schon, oder?«
    »Falls es sich um Personen handelt. Falls es sich jedoch um Körper handelt, nicht unbedingt.«
    Estalère schüttelte den Kopf.
    »Falls die Füße Toten abgeschnitten wurden«, präzisierte Adamsberg. »Das macht dann neun Leichname. Die Engländer haben irgendwo neun Leichname ohne Füße und wissen es nicht. Ich frage mich«, fuhr er nachdenklich fort, »was ist eigentlich das Wort für ›Füße abschneiden‹? Jemandem den Kopf abschlagen heißt ›enthaupten‹. Bei den Augen sagt man ›enukleieren‹, bei den Hoden ›kastrieren‹. Aber was sagt man bei den Füßen? ›Epedestrieren‹?
    »Nichts«, sagte Danglard, »man sagt nichts. Das Wort gibt es nicht, weil es den Akt nicht gibt. Das heißt, weil es ihn noch nicht gab. Ein Mensch aber auf dem unbekannten Kontinent hat ihn jetzt vollbracht.«
    »Wie bei dem Schrankesser. Da gibt es auch kein Wort.«
    »Wie wäre es mit Thekophag«, schlug Danglard vor.

4
     
    Als der Zug in den Tunnel unter dem Ärmelkanal einfuhr, atmete Danglard hörbar ein, dann biss er die Zähne zusammen. Die Hinreise hatte seine Furcht nicht gemindert, diese Passage unter dem Wasser erschien ihm immer noch inakzeptabel, es war ein Aberwitz, was die Reisenden taten. Er sah deutlich vor Augen, wie er mit hoher Geschwindigkeit dahinraste, bedeckt von Tonnen sich brechender Wogen.
    »Man spürt förmlich das Gewicht«, sagte er und starrte an die Wagendecke.
    »Da ist kein Gewicht«, erwiderte Adamsberg. »Wir sind nicht unter dem Wasser, wir sind unterm Fels.«
    Estalère fragte, wie es denn möglich wäre, dass das Gewicht des Meeres nicht auf den Fels drückte, bis der Tunnel einbräche. Geduldig und bestimmt zeichnete Adamsberg für ihn das System auf eine Papierserviette: das Wasser, den Fels, die Ufer, den Tunnel, den Zug. Dann machte er die gleiche Skizzen noch einmal ohne Tunnel und ohne Zug, um ihm zu beweisen, dass ihr Vorhandensein nichts am Zustand der Dinge änderte.
    »Dennoch«, meinte Estalère, »das Gewicht des Meeres muss doch auf etwas drücken.«
    »Es drückt auf den Fels.«
    »Dann drückt doch aber der Fels viel stärker auf den Tunnel.«
    »Nein«, sagte Adamsberg und zeichnete das System von neuem auf.
    Danglard machte eine gereizte Bewegung. »Man stellt sich das Gewicht eben vor. Diese ungeheuerliche Masse über uns. Das Versunkensein. Einen Zug unterm Meer fahren zu lassen ist die Idee eines Geisteskranken.«
    »Nicht mehr, als einen Schrank zu verspeisen«, sagte Adamsberg, indem er seine Zeichnung schraffierte.
    »Aber was hat Ihnen dieser Schrankesser bloß getan, verdammt? Wir reden seit gestern nur noch von ihm.«
    »Ich versuche mich in sein Denken hineinzuversetzen, Danglard. Ich versuche die Gedanken des Schrankessers zu ergründen, oder die des Fußabschneiders, oder des Kerls, dessen Onkel von einem Bären verschlungen wurde. Gedanken

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