Der verbotene Schlüssel
reservierte sie einen Platz an ihrer Seite. Er war ein Mann mittleren Alters von edlem Blut und gutem Aussehen. Keine Frau hatte bisher sein Herz erobert.
»Könnt Ihr mir das Wesen der Zeit erschließen?«, erkundigte sich Dahut zu vorgerückter Stunde im Plauderton bei ihm. Viele Gäste waren schon betrunken und es herrschte eine ausgelassene Stimmung. Ihr Vater lauschte mit versonnener Miene einem Harfenspieler und auch sonst achtete niemand auf die beiden.
»Wozu?«, fragte der königliche Ratgeber ernst.
»Ich will sie mir untertan machen. Als zukünftige Königin von Ys soll weder sie noch eine andere Macht über mich bestimmen.«
»Ihr begehrt, in etwas Einblick zu nehmen, das große Gefahren in sich birgt. Deshalb wird dieses Geheimnis seit Anbeginn der Menschheit nur von Erleuchteten, von Männern und Frauen reinen Herzens, beschützt. Niemand sonst darf sich diesem Wissen nähern. Schlagt Euch die Sache aus dem Kopf, Prinzessin.«
Gradlons Tochter lächelte keck. »Seht mich an, Talan. Findet Ihr irgendeinen Makel an mir?«
»Es geht um innere Werte, Hoheit. Um die Reinheit des Wesens. Es steht mir nicht zu, über das Eure zu urteilen.«
Dahut merkte, dass die Lippen des Weisen für sie versiegelt waren. Sie trank einen Schluck Wein. Dann fragte sie scheinbar beiläufig: »Wurde das Wissen der Erleuchteten eigentlich je niedergeschrieben?«
»Wo denkt Ihr hin! Schon ein ungezügelter Gedanke daran könnte die ganze Stadt zerstören. Um wie viel gefährlicher wäre da ein Buch, das jedem Narren das Wesen der Zeit erschlösse!«
»Ihr haltet mich also für eine Närrin«, versetzte die Prinzessin spitz.
Talan seufzte. »Nein. Aber nicht Ihr und auch nicht der König seid die Hüter des Geheimnisses. Mit Bedacht haben die Altvordern des Reiches diese Aufgabe dem Rat der Weisen übertragen. Bei uns ist es sicher.«
»Könnten uns diese Eingeweihten und damit ihr kostbares Wissen nicht durch ein Unglück verloren gehen? Wie groß ist dieser Zirkel?«
»Es sind etliche. Mehr als zwei Dutzend. Die genaue Zahl braucht Ihr nicht zu kennen. Um das Geheimnis auszulöschen, müsste schon die ganze Stadt im Meer versinken. Und was Eure gefährliche Neugier anbelangt, Prinzessin, werde ich davon dem König berichten.«
Dahut blickte verstohlen nach rechts zu ihrem Vater, der sich immer noch von den Klängen der Leier verzaubern ließ. Er durfte nichts von ihren Plänen erfahren. Rasch wandte sie sich wieder dem Obersten Ratgeber zu, schenkte ihm ein bestrickendes Lächeln und legte ihre Hand an seine Wange. »Warum so streng, Weisester aller Weisen? Ich bin nur ein dummes, neugieriges Mädchen, das so kluge Männer wie Euch bewundert. Reden wir von etwas anderem. Wenn Ihr schon meine inneren Werte nicht beurteilen wollt, wie gefällt Euch das Äußere? Findet Ihr mich hübsch? …«
Es wäre müßig, den Fortgang des Abends in sämtlichen Einzelheiten zu schildern. Am Ende gelang es der Prinzessin, was noch keiner Frau gelungen war. Talans Herz stand in Flammen. Er begehrte diese zarte Blüte, die nie ein Mann zuvor gepflückt hatte. Wie ein Lamm, das zur Schlachtung geführt wird, folgte er ihr ins Schlafgemach.
Hier nahm sie ein Paar Halbmasken zur Hand, schwarze Larven, deren Sehschlitze mit dunklem Flor verkleidet waren. Mit der einen bedeckte sie ihre eigenen Augen, die andere reichte sie Talan mit den Worten: »Bis zum Sonnenaufgang sind wir nicht die Tochter des Königs und sein erster Ratgeber. Wir sind nur zwei Liebende ohne Namen.«
Nichts ersehnte er sich mehr als das. Während die Prinzessin ihn liebkoste, meinte er ab und an, hinter den Augenschleiern ihrer Maske ein Licht zu sehen. Doch der Weise war längst zum Narren geworden. Er hielt den Schimmer für ein Trugbild, das ihm seine entflammte Leidenschaft vorgaukelte. Als der Morgen graute und er trunken war von der Liebe zu Dahut, musste er den Preis für seine Unvorsichtigkeit zahlen.
Die schwarze Larve auf seinem Gesicht schien plötzlich zum Leben zu erwachen und ihn wie ein Krake zu umklammern. Sie wuchs um seinen Kopf herum, schloss sich um den Hals und zog sich dabei immer fester zusammen. Talan bekam keine Luft mehr. Er versuchte, um Hilfe zu schreien, doch es kamen nur gurgelnde Laute heraus. Dahut wartete am Fußende des Bettes, bis sein Todeskampf vorüber war.
»Du wirst mich nicht bei meinem Vater anschwärzen«, zischte sie. Dann rief sie nach einem Diener und befahl ihm, den Leichnam bei der Bucht der Toten ins Meer zu
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