Der verbotene Schlüssel
sie als Würze, nicht als Bedrohung. Neugierig blätterte sie auf die nächste Seite um. Opa Ole verdiente eine Chance. Und sein leicht antiquierter Wortschatz war ja auch ganz nett. Mal sehen, was er schrieb.
3
D ie merkwürdigste Geschichte der Welt beginnt mit dem Untergang einer Stadt, was durchaus wörtlich zu verstehen ist. Damals war die Menschheit noch jung und die dramatischen Ereignisse gingen in zahlreiche Sagen und Legenden ein. Die Kelten haben sie im Mythos von Ys bewahrt, bei den alten Griechen hieß das versunkene Reich Atlantis.
Im Mittelpunkt dieser Überlieferungen steht eine tragische Gestalt, ein mächtiger König, für dessen wahren Namen sich heute niemand mehr verbürgen kann. Um ihm ein Gesicht zu geben, wollen wir uns an die Bretonen halten, die ihn Gradlon nannten.
Jener Herrscher also soll ein großes Reich geschaffen haben. Es erstreckte sich von seinem Stammland Kernow an der Südwestspitze Britanniens – dem heutigen Cornwall – bis weit in den Norden. Während er mit seiner Flotte in feindlichen Gewässern kreuzte, spürte er eines Nachts die Gegenwart einer ungeheuren Macht. Er lag, wie es seine Gewohnheit war, rücklings auf dem Bett und hob den Kopf.
Etwas oberhalb seiner Füße schwebte eine Frau von atemberaubender Schönheit. Ihr Gesicht war so bleich wie der Vollmond, das lange, zu Zöpfen geflochtene Haar rot wie eine Feuersbrunst und ihr silberner Brustharnisch schimmerte wie die Sterne des Polarhimmels. Obwohl oder gerade weil sie ihm wie ein magisches Wesen erschien, entbrannte sein Herz sogleich in Liebe zu ihr.
»Ich bin Malgven, die Königin des Nordens«, ließ sie ihn wissen, »und ich kenne dich gut. Du bist jung, mutig und in der Kriegskunst bewandert. Mein Gemahl dagegen ist so alt wie sein rostiges Schwert. Wenn du mir hilfst, ihn zu töten, will ich als dein Weib mit dir nach Kernow gehen.«
Gradlon hatte von der Königin der Hyperboreer und ihrem nachtschwarzen Hengst Morvarc’h gehört. Angeblich spien die Nüstern des Rosses Feuer und es konnte auf den Schaumkronen der Wellen galoppieren. Mit einer solchen Gefährtin an der Seite würde sein Reich jedem Gegner trotzen können. Von der Leidenschaft und den Verlockungen der Unbesiegbarkeit betört, willigte Gradlon in den mörderischen Pakt ein. Er ahnte nicht, dass hinter der machtvollen Präsenz, die er kurz zuvor gespürt hatte, nicht Malgven, sondern ein abgrundtief böses Wesen steckte. Ein Meister der Täuschung.
Der Herrscher der Zeit.
Er hat kein Gesicht, und zugleich besitzt er viele, weil er die Schwächen der Menschen ausnutzt, um ihnen seinen Willen aufzuzwingen und in ihrer Gestalt neue Ränke zu schmieden. Selbst nennt er sich Oros, obgleich er Hunderte von Namen besitzt. Gradlons weise Männer nannten ihn den Stundenwächter . Wer so mannigfaltig ist, der bleibt für die meisten ein Niemand. Diesem Umstand verdankt Oros seine weitgehende Unbekanntheit. Das Bewusstsein der Menschheit reflektiert nur seinen Widerschein, bei den alten Persern als Zervan, dem Herrn des Lichts, der Finsternis und des Schicksals, oder bei den Griechen als Chronos, dem Gott der Zeit. Die Jünger des Orpheus hielten ihn gar für den Schöpfer des silbernen Welten-Eies.
Auch Gradlon ließ sich von ihm blenden, als er Malgvens Schönheit erlag und den König der Hyperboreer erschlug. Danach heiratete er die Witwe. Noch ahnte er nicht, dass ihm aus dieser Verbindung nur Schmerz und Kummer erwachsen sollten.
Das Unheil nahm seinen Lauf, nachdem er die Krone des Nordens empfangen hatte. Der ewigen Kämpfe überdrüssig, zettelten seine Männer eine Meuterei gegen ihn an und segelten mit der Flotte davon. Kaum waren Gradlon und Malgven mit dem einzigen verbliebenen Schiff in See gestochen, kam ein gewaltiger Sturm auf. Er trieb es unentwegt vor sich her, bis weit in die nordwestlichen Gewässer hinein. Die Irrfahrt dauerte ein volles Jahr.
Währenddessen schenkte Malgven ihrem Liebsten eine Tochter und nannte sie Dahut. Die Freude darüber währte nicht lang. Kurz nach der Geburt des Kindes starb Gradlons große Liebe im Kindbett. Mit dem Königsmord hatte er einen Fluch auf sich geladen, das wurde ihm allmählich klar.
Nach der Heimkehr gab sich der Witwer ganz seiner Trauer hin. Das einzige Licht in seinem Leben war die kleine Dahut. Im Spiel mit ihren blonden Locken fand seine wunde Seele Trost. Allmählich wuchs sie zu einem Mädchen heran, das seine Mutter an Schönheit sogar noch übertraf. Im Alter von
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