Der verbotene Schlüssel
die winzigen »Organe« – die Rädchen, Hebelchen, Scheiben, Bolzen und Wellen – genauer zu betrachten! Besonders faszinierte sie ein Bauteil tief im Innern, das sie spontan zum Herzen des mechanischen Körpers erklärte. Es bestand aus mehreren ineinander verschachtelten Halbkugeln, von denen sich wohl jede in eine andere Richtung bewegen konnte. Sie bildete sich ein, einiges von Uhren zu verstehen, aber das Ei war mit nichts vergleichbar, was sie von ihrem Vater darüber gelernt hatte. Fast schien es, als entdeckte sie – je tiefer ihre Blicke in den Mechanismus eindrangen – immer neue und kleinere Details. Der unwiderstehliche Drang, dieses faszinierende Räderwerk in Gang zu setzen, überwältigte sie. Sie beugte sich über die Sessellehne zum Fabergé-Ei hinab und griff nach dem Schlüsselchen …
Ihre Hand stockte. Was hatte Doktor Sibelius noch gleich gesagt? Im Testament steht übrigens, ich soll dich ausdrücklich und in aller Deutlichkeit warnen, das Fabergé-Ei zu öffnen, bevor du die Einleitung des Buches gelesen hast. Sophia richtete sich wieder auf und nahm stattdessen die Kladde aus der Mulde zwischen ihrem rechten Oberschenkel und der Sessellehne.
»Das merkwürdigste Buch der Welt?«, wisperte sie. Was hatte der verschrobene Alte sich dabei gedacht, diese Worte an den Anfang seines Vermächtnisses zu setzen? Sie ließ die »Eier-Uhr« in ihren Schoß gleiten, schlug das Schreibbuch auf, strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und begann zu lesen.
Liebe Sophia!
Bestimmt wunderst du dich über den Titel auf dem Buchdeckel. Bald wirst du mich verstehen. Ehe ich dir mehr von mir und meinem jahrelangen Schweigen erzähle, lass mich bitte eines voranschicken. Es ist sehr, sehr wichtig. Öffne bitte auf keinen Fall das Nürnberger Ei in der roten Kassette, die Dr. Sibelius dir übergeben hat! Ich rede von der Uhr im Messinggehäuse. Hast du es schon getan? Dann ziehe sie um Himmels willen nicht auf, ehe du mein Vermächtnis an dich – dieses von mir geschriebene Buch – von Anfang bis Ende gelesen hast! Sie ist nämlich weit mehr als eine gewöhnliche Uhr. In Wahrheit ist sie ein kosmischer Mechanismus. Fasse am besten ihren vergoldeten Schlüssel gar nicht erst an. Tu einfach so, als sei es dir bei Todesstrafe verboten , ihn anzurühren. Wer diesen Schlüssel benutzt und ahnungslos das Uhr-Ei in Gang setzt, kann großes Unheil auslösen und die ganze Welt zum Stillstand bringen …
»Irre!«, japste Sophia. Die Kladde sank auf ihre Schenkel herab. Der Notar hatte sie ja gewarnt, Ole Kollin sei ein zwar liebenswerter, doch manchmal recht seltsamer Mann gewesen. Dass er allerdings so seltsam war, hatte Sibelius nicht erwähnt. Sie schüttelte den Kopf, ließ das Buch wieder hochklappen und versenkte ihren Blick erneut in die schwungvolle, wunderschöne Handschrift des Uhrmachers.
Du brauchst gar nicht den Kopf zu schütteln, Sophia. Ich mag ein komischer alter Kauz sein, aber ich bin nicht so verrückt, wie du vielleicht denken magst. Mein Wissen über das Uhr-Ei fußt auf zuverlässigen Quellen. Manche von ihnen sind uhralt (sic!) – sie stammen aus der Zeit, als das mechanische Ei von dem Nürnberger Uhrmachermeister Hans Gruber und zwei anderen Meistern des Fachs gebaut wurde. Durch einen Jungen namens Theo sind wir Kollins sogar in zweitausend Jahre alte Geheimnisse eingeweiht worden. Das wahre Mysterium des Uhr-Eis wurzelt in noch fernerer Vergangenheit. Niemand weiß heute mehr, wann alles begann. Es gibt nur eine Legende, die der Gefahr einen Namen gibt, den sogenannten »Mythos von Ys «. Was ich darüber herausfinden konnte, habe ich auf den folgenden Seiten aufgeschrieben. Du solltest diese Geschichte kennen, ehe du das Buch zuklappst und mich endgültig für verrückt erklärst. Bitte blättere um.
Sophia schüttelte abermals den Kopf. Der alte Zausel musste nicht mehr ganz richtig im Kopf gewesen sein, als er diese Zeilen … Ihre Gedanken verharrten, weil ihr die Stille im Zimmer aufs Gemüt schlug. Unbehaglich blickte sie sich um. Nichts als stehende Räderwerke. Wie festgepinnt auf dreizehn Uhr dreizehn. Abgesehen vom Chronometer an ihrem Handgelenk funktionierte kein einziger Zeitmesser im Raum – es war kurz nach halb eins.
Sie trank einen Schluck Pfefferminztee. Als Theatermensch liebte sie gute Geschichten, vor allem die fantastischen Stoffe. Der geheimnisvolle Tonfall ihres Großvaters hatte sie in den Bann geschlagen. Die von ihm erwähnten Gefahren empfand
Weitere Kostenlose Bücher