Der verbotene Turm
verstecken. Er mochte Callista hin und wieder überreden können, die Barriere zu senken oder beiseite zu ziehen, aber sie würde niemals verschwinden, und er konnte sie nicht vernichten, ohne gleichzeitig Callista zu vernichten. An der Oberfläche wirkte Callista hart und unverwundbar. Andrew spürte jedoch, darunter war sie von äußerster Verletzlichkeit.
»Ich will Leonie ja keinen Vorwurf machen, liebes Herz. Ich wünschte nur, sie hätte uns beiden genauere Erklärungen gegeben.«
Andrew war gegen Leonie durchaus gerecht, dachte Callista und erinnerte sich, wie sie in der Überwelt gegen Leonie gewütet hatte. Es war wie ein Albtraum! Trotzdem fühlte sie sich verpflichtet zu sagen: »Leonie wußte es nicht.«
Am liebsten hätte Andrew herausgebrüllt: Warum nicht, zum Teufel? Das ist doch ihr Fach, oder? Aber er wagte es nicht, Leonie vor Callista zu kritisieren. Seine Stimme bebte. »Was sollen wir tun? So weitermachen wie jetzt, wo du dich nicht einmal von meiner Hand berühren lassen willst?«
»Es geht nicht um das Wollen.« Callista zwang die Worte durch den Klumpen in ihrer Kehle. »Ich kann nicht . Ich dachte, Damon habe es dir erklärt.«
»Und das Beste, was Damon tun konnte, war, es noch schlimmer zu machen!«
»Nicht schlimmer!« Wieder flammten ihre Augen. »Er hat mir das Leben gerettet! Sei gerecht, Andrew!«
Andrew murmelte mit gesenktem Blick: »Ich habe es satt, gerecht zu sein.«
»Wenn du so sprichst, habe ich das Gefühl, du haßt mich.«
Das ernüchterte ihn. »Niemals, Callie. Ich komme mir nur so verdammt hilflos vor. Was sollen wir tun?«
Callista schlug die Augen nieder und wandte das Gesicht zur Seite. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß es besonders schwer für dich ist. Ellemir …« Aber hier hielt sie inne, und Andrew, von der alten Zärtlichkeit überwältigt, suchte nach dem geistigen Kontakt. Er wollte sie und sich selbst überzeugen, daß dieser Kontakt noch vorhanden war, daß ihm die Trennung nichts geschadet hatte. Es schoß ihm durch den Kopf, daß wegen ihrer tief eingewurzelten kulturellen Unterschiede selbst die Telepathie keine Garantie gegen Mißverständnisse war. Aber die alte Verbundenheit war vorhanden.
Davon mußten sie ausgehen. Das Begreifen konnte später kommen.
Andrew sagte liebevoll: »Du siehst müde aus, Callie. An deinem ersten Tag außer Bett darfst du dich nicht überanstrengen. Laß mich dich nach oben bringen.« Und als sie in ihrem Zimmer allein waren, fragte er behutsam: »Machst du mir Ellemirs wegen Vorwürfe, Callista? Ich dachte, es sei dein Wunsch gewesen.«
»Das war es auch«, stammelte sie. »Aber nur, weil … weil … es dir das Warten leichter machen sollte. Müssen wir darüber reden, Andrew?«
Er antwortete nüchtern: »Das tun wir doch schon. In jener Nacht …« Und wieder erfaßte sie genau, was er meinte. Für sie alle vier konnte der Ausdruck »jene Nacht« noch für lange Zeit nur eine bestimmte Bedeutung haben.
»Etwas, das Damon zu mir sagte, hat mich sehr getroffen. Da seien wir nun alle vier Telepathen, meinte er, und keiner habe genug Verstand gezeigt, sich hinzusetzen und Mißverständnisse auszuräumen. Ellemir und ich haben es fertig gebracht, darüber zu sprechen.« Mit schwachem Lächeln setzte er hinzu: »Allerdings mußte sie mich erst halb betrunken machen, bis ich so weit war, daß ich ehrlich mit ihr reden konnte.«
Callista sah ihn nicht an. »Und es ist jetzt leichter für dich. Habe ich Recht?«
Andrew antwortete ruhig: »In gewisser Weise. Aber es ist es nicht wert, daß du dich schämst, mich anzusehen, Callista.«
»Ich schäme mich nicht.« Sie zwang sich, die Augen zu heben. »Ich schäme mich nicht, nein, es ist nur … Man hat mich gelehrt, meine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, damit ich nicht … verwundbar sei. Wenn du darüber sprechen möchtest …« – Evanda und Avarra mochten verhüten, daß sie weniger ehrlich mit ihm war als Ellemir – »… dann will ich es versuchen. Aber ich bin … an solche Gespräche und solche Gedanken nicht gewöhnt, und … ich finde vielleicht nicht gleich Worte dafür. Wenn du … mir das nachsehen willst, dann … werde ich mir Mühe geben.«
Sie biß sich auf die Lippe, sie zwängte die Worte mühsam durch die Barriere ihrer Verschlossenheit, und Andrew empfand tiefes Mitleid mit ihr. Er überlegte, ob er es ihr ersparen solle, aber er wußte auch, daß eine Barriere des Schweigens die einzige Barriere war, die sie später nie mehr
Weitere Kostenlose Bücher