Der verbotene Turm
nicht gesund aus. Doch damit hatte man wohl rechnen müssen. »Wie geht es dir, Vater?«
»Oh, bei mir ändert sich gar nichts«, meinte der alte Mann. Callista brachte Andrew ein Glas. Er nahm es und führte es an die Lippen. Der heiße, gewürzte Apfelwein schmeckte herrlich nach dem langen Ritt. Es war schön, zu Hause zu sein. Im unteren Teil der Halle deckten die Mägde den Tisch für die Abendmahlzeit.
»Wie steht es draußen?« erkundigte sich Dom Esteban, und Andrew begann mit seinem Bericht.
»Die meisten Straßen sind wieder frei. Nur an der Biegung des Flusses sind schwere Schneeverwehungen und Packeis. Alles in allem betrachtet, haben wir nicht viel an Tieren verloren. Vier Stuten und drei Fohlen haben wir in dem Schuppen jenseits der Furt gefunden. Über dem Futter hatte sich Eis gebildet, und wahrscheinlich verhungerten sie, bevor sie erfroren.«
Der Alton-Lord blickte ernst drein. »Eine gute Zuchtstute ist ihr Gewicht in Silber wert, aber bei einem derartigen Sturm hätten wir schlimmere Verluste haben können. Was sonst noch?«
»Auf dem Abhang einen Tagesritt nördlich von Corresanti waren ein paar Jährlinge von der übrigen Herde abgeschnitten worden. Einer brach sich das Bein und konnte das Schutzdach nicht erreichen. Er wurde unter einer Lawine begraben. Die anderen waren ausgehungert und zitterten, aber sonst fehlte ihnen nichts. Sie sind gefüttert und versorgt worden, und wir haben einen Mann zurückgelassen, der sich um sie kümmert. Ein halbes Dutzend Kälber lagen tot auf der am weitesten entfernten Weide im Dorf Bellazi. Das Fleisch war gefroren, und die Dorfbewohner baten um die Kadaver. Sie behaupteten, das Fleisch sei noch gut, und du hättest es ihnen immer gegeben. Ich sagte ihnen, sie sollten tun, wie es der Brauch sei. War das richtig?«
Der alte Mann nickte. »Das ist seit hundert Jahren der Brauch. Bei einem Blizzard getötetes Vieh gehört den Bewohnern des nächsten Dorfes, die zusehen, was sich an Fleisch und Häuten noch verwenden läßt. Zum Entgelt stellen sie Tiere, die bei einem Sturm ihren Weg nach unten finden, bei sich unter, füttern sie und bringen sie zurück, sobald es möglich ist. Wenn sie in der schlechten Jahreszeit zusätzlich eins schlachten und essen, mache ich mir darüber keine Sorgen. Ich bin kein Tyrann.«
Die Mägde brachten das Essen herein. Männer und Frauen des Haushalts versammelten sich um den langen Tisch in der unteren Halle, und Andrew schob Dom Estebans Rollstuhl zu seinem Platz an dem oberen Tisch, wo die Familie mit einigen der ranghöheren Diener und mit den Fachleuten auf der Ranch und dem Gut aß. Andrew fragte sich schon, ob Damon überhaupt nicht mehr erscheinen werde, als plötzlich die Tür am Ende der Halle aufflog und Damon eintrat. Er entschuldigte sich kurz bei Ellemir für seine Verspätung und kam mit einem ihn willkommen heißenden Lächeln zu Andrew.
»Ich hörte im Hof, daß du zu Hause bist. Wie bist du allein zurechtgekommen? Immerzu habe ich gedacht, ich hätte dies erste Mal mit dir reiten sollen.«
»Ich bin ganz gut fertig geworden, obwohl ich mich über deine Gesellschaft gefreut hätte«, antwortete Andrew. Er stellte fest, daß Damon müde und hohlwangig aussah. Was hatte er nur mit sich angefangen? Damon erzählte jedoch nichts von sich. Er stellte Fragen über das Vieh und die Futtervorräte, die vom Sturm angerichteten Schäden, die Brücken und Furten, als habe er in seinem ganzen Leben nichts anderes getan, als bei der Leitung einer Pferderanch zu helfen. Während des Fachgesprächs der beiden Männer mit Dom Esteban unterhielten Callista und Ellemir sich leise. Andrew freute sich schon darauf, wenn sie wieder unter sich waren, aber er bedauerte es auch nicht, daß er einige Zeit mit seinem Schwiegervater verbrachte. Anfangs hatte er gefürchtet, er werde bei ihm nur als Callistas Ehemann gelten, ein mittelloser Fremder, nutzlos für die Angelegenheiten dieser Welt. Jetzt wußte er, daß er ebenso akzeptiert und geschätzt wurde wie ein als Erbe der Domäne geborener Sohn.
Der größte Teil der Mahlzeit ging im Gespräch über Reparaturen an Gebäuden und Brücken und Ersatz für das verlorene Vieh hin. Die Mägde räumten schon das Geschirr ab, als Callista sich vorbeugte und ihren Vater etwas fragte. Dom Esteban nickte gewährend. Sie stand auf und klopfte, Aufmerksamkeit heischend, kurz auf den Rand eines metallenen Deckelkrugs. Die in der Halle beschäftigten Dienstboten blickten respektvoll zu ihr
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