Der Verdacht
unbeweglich.
«Du könntest dir doch wirklich einmal so etwas wie Papiere verschaffen», schlug der Alte vor. «Ich habe zwar nicht viel übrig für dergleichen; aber irgendeine Ordnung muß in Gottes Namen sein.»
«Ich bin gestorben», sagte der Jude. «Die Nazis haben mich erschossen.»
Bärlach schwieg. Er wußte, worauf der Riese anspielte. Das Licht der Lampe umgab die Männer mit einem ruhigen Kreis. Irgendwoher schlug es Mitternacht. Der Jude schenkte Wodka ein. Seine Augen blitzten in einer sonderbaren Heiterkeit höherer Art.
«Als unsere Freunde von der SS mich an einem schönen Maientag des Jahres fünfundvierzig bei angenehmster Witterung – an eine kleine weiße Wolke erinnere ich mich noch gut – in irgendeiner hundsgemeinen Kalkgrube inmitten fünfzig erschossener Männer meines armen Volkes aus Versehen liegen ließen und als ich mich nach Stunden blutüberströmt unter den Flieder verkriechen konnte, der nicht weit davon blühte, so daß mich das Kommando, welches das Ganze zuschaufelte, übersah, habe ich geschworen, von nun an immer diese armselige Existenz eines geschändeten und geprügelten Stück Viehs zu führen, wenn es schon Gott gefalle, daß wir in diesem Jahrhundert oft wie die Tiere zu leben haben. Von da an habe ich nur noch in der Dunkelheit der Gräber gelebt und mich in Kellern und ähnlichem aufgehalten, nur die Nacht hat mein Antlitz gesehen, und nur die Sterne und der Mond diesen armseligen und tausendmal zerfetzten Kaftan beschienen. Das ist recht so. Die Deutschen haben mich getötet, und ich habe bei meiner ehemaligen arischen Frau – sie ist jetzt tot, und das ist gut für dieses Weib – meinen Totenschein gesehen, den sie per Reichspost bekam, er war gründlich ausgeführt und machte den guten Schulen alle Ehre, in denen man dieses Volk zur Zivilisation erzieht. Tot ist tot, das gilt für Jude und Christ, verzeih die Reihenfolge, Kommissar. Für einen Toten gibt es keine Papiere, das mußt du zugeben, und keine Grenzen; er kommt in jedes Land, wo es noch verfolgte und gemarterte Juden gibt. Prosit, Kommissar, ich trinke auf unsere Gesundheit!»
Die zwei Männer tranken ihre Gläser leer; der Mann im Kaftan schenkte neuen Wodka ein und sagte, indem sich seine Augen zu zwei funkelnden Schlitzen zusammenzogen: «Was willst du von mir, Kommissar Bärlach?»
«Kommissär», verbesserte der Alte.
«Kommissar», behauptete der Jude.
«Ich möchte eine Auskunft von dir», sagte Bärlach.
«Eine Auskunft ist gut», lachte der Riese. «Sie ist Goldes wert, eine solide Auskunft. Gulliver weiß mehr als die Polizei.»
«Das werden wir sehen. Du bist in allen Konzentrationslagern gewesen, das hast du mir gegenüber einmal erwähnt. Du erzählst ja sonst wenig von dir», sagte Bärlach.
Der Jude füllte die Gläser. «Man hat meine Person einmal so überaus wichtig genommen, daß man mich von einer Hölle in die andere schleppte, und es gab deren mehr als die neun, von denen Dante singt, der in keiner war. Von jeder habe ich tüchtige Narben mit in mein Leben nach dem Tode gebracht.» Er streckte seine linke Hand aus. Sie war verkrüppelt.
«So kennst du vielleicht einen Arzt der SS namens Nehle?» fragte der Alte gespannt.
Der Jude schaute einen Augenblick lang nachdenklich auf den Kommissär. «Meinst du den vom Lager Stutthof?» fragte er dann.
«Den», antwortete Bärlach.
Der Riese sah den Alten spöttisch an. «Der hat sich am zehnten August fünfundvierzig in Hamburg in einem armseligen Hotel das Leben genommen», sagte er nach einer Weile.
Bärlach dachte etwas enttäuscht: «Gulliver weiß einen Dreck mehr als die Polizei», und er sagte: «Bist du jemals in deiner Laufbahn – oder wie man das schon nennen soll – Nehle begegnet?»
Der zerlumpte Jude sah den Kommissär erneut prüfend an, und sein narbenüberdecktes Antlitz verzog sich zu einer Grimasse. «Was frägst du nach dieser ausgefallenen Bestie?» erwiderte er dann.
Bärlach überlegte, wie weit er sich dem Juden eröffnen sollte, beschloß jedoch, zu schweigen und den Verdacht, den er gegen Emmenberger gefaßt hatte, bei sich zu behalten.
«Ich sah sein Bild», sagte er deshalb, «und es interessiert mich, was aus; so einem geworden ist. Ich bin ein kranker Mann, Gulliver, und muß noch lange liegen, immer Molière lesen geht auch nicht, da hängt man eben seinen Gedanken nach. So nimmt es mich denn wunder, was ein Massenmörder wohl für ein Mensch ist.»
«Alle Menschen sind gleich. Nehle war
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