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Der Verdacht

Der Verdacht

Titel: Der Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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hat gute Krankenschwestern hervorgebracht und ebenso tüchtige Mörder.»
    Einen Moment dachte der Alte, es sei doch jetzt genug mit dem Wodka, aber schließlich trank er auch.
    Das Zimmer drehte sich einen Moment, Gulliver erinnerte ihn an eine riesige Fledermaus, dann blieb das Zimmer wieder ruhig, wenn auch ein wenig schräg. Aber das mußte man wohl in Kauf nehmen.
    «Du hast Nehle gekannt», sagte Bärlach.
    Der Riese antwortete, er habe gelegentlich mit ihm zu tun gehabt, und beschäftigte sich weiter mit seinem Wodka. Dann fing er an zu erzählen, aber nun nicht mehr mit der kalten, klaren Stimme von vorher, sondern in einem merkwürdig singenden Ton, der sich verstärkte, wenn die Ironie und der Spott mitschwangen, manchmal aber auch leise wurde, gedämpft, so daß Bärlach begriff, daß alles, auch das Wilde und Höhnische nur ein Ausdruck einer unermeßlichen Trauer war über den unbegreiflichen Sündenfall einer einst schönen, von Gott erschaffenen Welt. So saß nun in der Mitternacht dieser riesenhafte Ahasver bei ihm, dem alten Kommissär, der da todkrank in seinem Bette lag und den Worten des jammervollen Mannes lauschte, den die Geschichte unserer Epoche zu einem düsteren, furchterregenden Todesengel geschaffen hatte.
    «Es war im Dezember vierundvierzig», berichtete Gulliver in seinem Singsang, halb in Wodka versponnen, auf dessen Meeren sich sein Schmerz wie eine dunkle, ölige Fläche ausbreitete, «und dann noch im Januar des folgenden Jahres, als die glasige Sonne der Hoffnung eben fern an den Horizonten über Stalingrad und Afrika emporstieg. Und doch waren diese Monate verflucht, Kommissar, und ich habe zum erstenmal bei allen unseren ehrwürdigen Talmudisten und ihren grauen Bärten geschworen, daß ich sie nicht überlebe. Daß dies doch geschah, lag an Nehle, dessen Leben zu erfahren du so begierig bist. Von diesem Jünger der Medizin darf ich dir melden, daß er mir das Leben rettete, indem er mich in die unterste Hölle tauchte und an den Haaren wieder emporriß, eine Methode, der meines Wissens nur einer widerstand, ich nämlich, der ich verflucht bin, alles zu überstehen; und aus übergroßer Dankbarkeit habe ich denn nicht gezögert, ihn zu verraten, indem ich ihn fotografierte. In dieser verkehrten Welt gibt es Wohltaten, die man nur mit Schurkereien bezahlen kann.»
    «Ich verstehe nicht, was du da erzählst», entgegnete der Kommissär, der nicht recht wußte, ob dabei der Wodka im Spiele stand oder nicht.
    Der Riese lachte und holte eine zweite Flasche aus seinem Kaftan. «Verzeih», sagte er, «ich mache lange Sätze, aber meine Qualen waren noch länger. Es ist einfach, was ich sagen will: Nehle hat mich operiert. Ohne Narkose. Mir wurde diese unerhörte Ehre zuteil. Verzeih zum zweitenmal, Kommissar, aber ich muß Wodka trinken und dies wie Wasser, wenn ich daran denke, denn es war scheußlich.»
    «Teufel», rief Bärlach aus, und dann noch einmal in die Stille des Spitals hinein: «Teufel». Er hatte sich halb auf gerichtet und hielt dem Ungeheuer, das an seinem Bette saß, mechanisch das leere Glas hin.
    «Die Geschichte braucht nichts als ein wenig Nerven, sie zu vernehmen; aber weniger, als sie zu erleben», fuhr der Jude im alten, verschimmelten Kaftan mit singendem Tone fort. «Man sollte die Dinge endlich vergessen, sagt man, und dies nicht nur in Deutschland; in Rußland kämen jetzt auch Grausamkeiten vor und Sadisten gebe es überall; aber ich will nichts vergessen und dies nicht nur, weil ich ein Jude bin – sechs Millionen meines Volkes haben die Deutschen getötet, sechs Millionen! –; nein, weil ich immer noch ein Mensch bin, auch wenn ich in meinen Kellerlöchern mit den Ratten lebe! Ich weigere mich, einen Unterschied zwischen den Völkern zu machen und von guten und schlechten Nationen zu sprechen; aber einen Unterschied zwischen den Menschen muß ich machen, das ist mir eingeprügelt worden, und vom ersten Hieb an, der in mein Fleisch fuhr, habe ich zwischen Peinigern und Gepeinigten unterschieden. Die neuen Grausamkeiten anderer Wärter in anderen Ländern ziehe ich nicht von der Rechnung ab, die ich den Nazis entgegenhalte und die sie mir bezahlen müssen, sondern ich zähle sie dazu. Ich nehme mir die Freiheit, nicht zwischen denen zu unterscheiden, die quälen. Sie haben alle dieselben Augen. Wenn es einen Gott gibt, Kommissar, und nichts erhofft mein geschändetes Herz mehr, so sind vor ihm keine Völker, sondern nur Menschen, und er wird jeden nach

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