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Der Verdacht

Der Verdacht

Titel: Der Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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flüstern.
    Da berührte die Ärztin nachlässig seine rechte Schulter, und er fiel hilflos zurück.
    «Nein, nein», röchelte er in den Kissen.
    «Sie Narr!» lachte die Ärztin. «Was wollen Sie mit Ihrem Nein, Nein! In den schwarzen Kohlengebieten, woher ich komme, habe ich auch mein Nein, Nein zu dieser Welt voll Not und Ausbeutung gesagt und fing an zu arbeiten: In der Partei, in den Abendschulen, später auf der Universität und immer entschlossener und hartnäckiger in der Partei. Ich studierte und arbeitete um meines Nein, Nein willen; aber jetzt, Kommissär, jetzt, wie ich in diesem Ärztekittel an diesem nebligen Morgen voll Schnee und Regen vor Ihnen stehe, weiß ich, daß dieses Nein, Nein sinnlos geworden ist, denn die Erde ist zu alt, um noch ein Ja, Ja zu werden, das Gute und das Böse sind zu sehr ineinander verschlungen in der gottverlassenen Hochzeitsnacht zwischen Himmel und Hölle, die diese Menschheit gebar, um je wieder voneinander getrennt zu werden, um zu sagen: Dies ist wohlgetan und jenes vom Übel, dies führt zum Guten und jenes zum Schlechten. Zu spät! Wir können nicht mehr wissen, was wir tun, welche Handlung unser Gehorsam oder unsere Auflehnung nach sich zieht, welche Ausbeutung, was für ein Verbrechen an den Früchten klebt, die wir essen, am Brot und an der Milch, die wir unseren Kindern geben. Wir töten, ohne das Opfer zu sehen und ohne von ihm zu wissen, und wir werden getötet, ohne daß der Mörder es weiß. Zu spät! Die Versuchung dieses Daseins war zu groß, und der Mensch zu klein für die Gnade, die darin besteht, zu leben und nicht vielmehr Nichts zu sein. Nun sind wir krank auf den Tod, vom Krebs unserer Taten zerfressen. Die Welt ist faul, Kommissär, sie verwest wie eine schlecht gelagerte Frucht. Was wollen wir noch! Die Erde ist nicht mehr als Paradies herstellbar, der infernalische Lavastrom, den wir in den lästerlichen Tagen unserer Siege, unseres Ruhms und unseres Reichtums heraufbeschworen haben und der nun unsere Nacht erhellt, läßt sich nicht mehr in die Schächte bannen, denen er entstiegen ist. Wir können nur noch in unseren Träumen zurückgewinnen, was wir verloren haben, in den leuchtenden Bildern der Sehnsucht, die wir durch das Morphium erlangen. So tue ich denn, Edith Marlok, ein vierunddreißigjähriges Weib, für die farblose Flüssigkeit, die ich mir unter die Haut spritze, die mir am Tag den Mut zum Hohn und in der Nacht meine Träume verleiht, die Verbrechen, die man von mir verlangt, damit ich in einem flüchtigen Wahn besitze, was nicht mehr da ist: diese Welt, wie ein Gott sie erschaffen hat. C'est ça. Emmenberger, Ihr Landsmann, dieser Berner, kennt die Menschen und wofür sie zu brauchen sind. Er setzt seine unbarmherzigen Hebel an, wo wir am schwächsten sind: am tödlichen Bewußtsein unserer ewigen Verlorenheit.»
    «Gehen Sie jetzt», flüsterte er, «gehen Sie jetzt!»
    Die Ärztin lachte. Dann richtete sie sich auf, schön, stolz, unnahbar.
    «Sie wollen das Schlechte bekämpfen und fürchten sich vor meinem C'est ça», sagte sie, sich aufs neue schminkend und pudernd, wieder an die Türe gelehnt, über der sinnlos und einsam das alte Holzkreuz hing. «Sie schaudern schon vor einer geringen, tausendmal besudelten und entwürdigten Dienerin dieser Welt. Wie werden Sie erst ihn, den Höllenfürsten selbst, Emmenberger, bestehen?»
    Und dann warf sie dem Alten eine Zeitung und ein braunes Kuvert auf das Bett.
    «Lesen Sie die Post, mein Herr. Ich denke, Sie werden sich wundern, was Sie mit Ihrem guten Willen angerichtet haben!»

Ritter, Tod und Teufel
    N achdem die Ärztin den Alten verlassen hatte, lag er lange unbeweglich. Sein Verdacht hatte sich bestätigt, doch was ihm zur Zufriedenheit hätte gereichen sollen, flößte ihm Grauen ein. Er hatte richtig gerechnet, doch falsch gehandelt, wie er ahnte. Allzusehr fühlte er die Ohnmacht seines Leibes. Er hatte sechs Tage verloren, sechs fürchterliche Tage, die seinem Bewußtsein fehlten, Emmenberger wußte, wer ihm nachstellte, und hatte zugeschlagen.
    Dann endlich, als Schwester Kläri mit Kaffee und Brötchen kam, ließ er sich aufrichten, trank und aß trotzig das Gebrachte, wenn auch mißtrauisch, entschlossen, seine Schwäche zu besiegen und anzugreifen.
    «Schwester Kläri», sagte er, «ich komme von der Polizei, es ist vielleicht besser, daß wir deutlich miteinander reden.»
    «Ich weiß, Kommissär Bärlach», antwortete die Krankenschwester, drohend und gewaltig neben

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