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Der Verdacht

Der Verdacht

Titel: Der Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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einen Sinn haben kann, wenn er eins ist mit der Idee der Nächstenliebe und der Menschlichkeit. Doch jetzt bin ich über die Brücke gegangen, Kommissär, für immer über diesen schwarzen, schwankenden Steg, unter dem der Bug dahinfließt (so heißt dieser Tartarus). Ich weiß nun, wie der Mensch beschaffen ist, so nämlich, daß man alles mit ihm machen kann, was sich je ein Machthaber oder je ein Emmenberger zu seinem Vergnügen und seinen Theorien zuliebe erdenkt; daß man aus dem Munde der Menschen jedes Geständnis zu erpressen vermag, denn der menschliche Wille ist begrenzt, die Zahl der Foltern Legion. Laßt jede Hoffnung fahren, die ihr mich durchschreitet! Ich ließ jede Hoffnung fahren. Es ist Unsinn, sich zu wehren und sich für eine bessere Welt einzusetzen. Der Mensch selbst wünscht seine Hölle herbei, bereitet sie in seinen Gedanken vor und leitet sie mit seinen Taten ein. Überall dasselbe, in Stutthof und hier im Sonnenstein, dieselbe schaurige Melodie, die aus dem Abgrund der menschlichen Seele in düsteren Akkorden aufsteigt. War das Lager bei Danzig die Hölle der Juden, der Christen und Kommunisten, so ist dieses Spital hier, mitten im braven Zürich, die Hölle der Reichen.»
    «Was verstehen Sie darunter? Das sind seltsame Worte, die Sie da brauchen», fragte Bärlach, gebannt der Ärztin folgend, die ihn gleichermaßen faszinierte und erschreckte.
    «Sie sind neugierig», sagte sie, «und scheinen stolz darauf zu sein. Sie wagten sich in einen Fuchsbau, aus dem es keinen Ausweg mehr gibt. Zählen Sie nicht auf mich. Mir sind die Menschen gleichgültig, auch Emmenberger, der doch mein Geliebter ist.»

Die Hölle der Reichen
    « W arum», begann sie wieder zu sprechen, «um dieser verlorenen Welt willen, Kommissär, haben Sie sich denn nicht mit ihren täglichen Diebstählen begnügt, und wozu denn mußten Sie in den Sonnenstein dringen, wo Sie nichts zu suchen haben? Doch ein ausgedienter Polizeihund verlangt nach höherem, denke ich.»
    Die Ärztin lachte.
    «Das Unrecht ist dort aufzusuchen, wo es zu finden ist», antwortete der Alte. «Das Gesetz ist das Gesetz.»
    «Ich sehe, Sie lieben die Mathematik», entgegnete sie und steckte sich eine neue Zigarette in Brand. Immer noch stand sie an seinem Bett, nicht zögernd und behutsam, wie man sich dem Lager eines Kranken nähert, sondern so, wie man neben einem Verbrecher steht, der schon auf den Schrägen gebunden ist und dessen Tod man als richtig und wünschenswert erkannt hat, als eine sachliche Prozedur, die ein nutzloses Dasein auslöscht. «Das habe ich mir schon gleich gedacht, daß Sie zu jener Sorte von Narren gehören, die auf die Mathematik schwören. Das Gesetz ist das Gesetz. X = X. Die ungeheuerlichste Phrase, die je in den ewig blutigen, ewig nächtlichen Himmel stieg, der über uns hängt», lachte sie. «Wie wenn es eine Bestimmung über Menschen gäbe, die ohne Rücksicht auf das Maß der Macht gelten könnte, die ein Mensch besitzt! Das Gesetz ist nicht das Gesetz, sondern die Macht; dieser Spruch steht über den Tälern geschrieben, in denen wir zugrunde gehen. Nichts ist sich selber in dieser Welt, alles ist Lüge. Wenn wir Gesetz sagen, meinen wir Macht; sprechen wir das Wort Macht aus, denken wir an Reichtum, und kommt das Wort Reichtum über unsere Lippen, so hoffen wir, die Laster der Welt zu genießen. Das Gesetz ist das Laster, das Gesetz ist der Reichtum, das Gesetz sind die Kanonen, die Trusts, die Parteien; was wir auch sagen, nie ist es unlogisch, es sei denn der Satz, das Gesetz sei das Gesetz, der allein die Lüge ist. Die Mathematik lügt, die Vernunft, der Verstand, die Kunst, sie alle lügen. Was wollen Sie denn, Kommissär? Da werden wir, ohne gefragt zu werden, auf irgendeine brüchige Scholle gesetzt, wir wissen nicht wozu; da stieren wir in ein Weltall hinein, ungeheuer an Leere und ungeheuer an Fülle, eine sinnlose Verschwendung, und da treiben wir den fernen Katarakten entgegen, die einmal kommen müssen – das einzige, was wir wissen. So leben wir, um zu sterben, so atmen und sprechen wir, so lieben wir, und so haben wir Kinder und Kindeskinder, um mit ihnen, die wir lieben und die wir aus unserem Fleische hervorgebracht haben, in Aas verwandelt zu werden, um in die gleichgültigen, toten Elemente zu zerfallen, aus denen wir zusammengesetzt sind. Die Karten wurden gemischt, ausgespielt und zusammengeräumt; c'est ça. Und weil wir nichts anderes haben als diese treibende Scholle von Dreck und Eis,

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