Der Verdacht
an die wir uns klammern, so wünschen wir, daß dieses unser einziges Leben – diese flüchtige Minute angesichts des Regenbogens, der sich über dem Gischt und dem Dampf des Abgrunds spannt – ein glückliches sei, daß uns der Überfluß der Erde geschenkt werde, die kurze Zeit, da sie uns zu tragen vermag, sie, die einzige, wenn auch armselige Gnade, die uns verliehen wurde. Doch dies ist nicht so und wird nie so sein, und das Verbrechen, Kommissär, besteht nicht darin, daß es nicht so ist, daß es Armut und Elend gibt, sondern darin, daß es Arme und Reiche gibt, daß das Schiff, das uns alle hinunterreißt, mit dem wir alle versinken, noch Kabinen für die Mächtigen und Reichen neben den Massenquartieren der Elenden besitzt. Wir müßten alle sterben, sagt man, da spiele dies keine Rolle. Sterben sei Sterben. O diese possenhafte Mathematik! Eines ist das Sterben der Armen, ein anderes das Sterben der Reichen und der Mächtigen, und eine Welt zwischen ihnen, jene, in der sich die blutige Tragikomödie zwischen dem Schwachen und dem Mächtigen abspielt. Wie der Arme gelebt hat, stirbt er auch, auf einem Sack im Keller, auf einer zerschlissenen Matratze, wenn's höher geht, oder auf dem blutigen Feld der Ehre, wenn's hoch kommt; aber der Reiche stirbt anders. Er hat im Luxus gelebt und will nun im Luxus sterben, er ist kultiviert und klatscht beim Krepieren in die Hände: Beifall, meine Freunde, die Theatervorstellung ist zu Ende! Das Leben war eine Pose, das Sterben eine Phrase, das Begräbnis eine Reklame und das Ganze ein Geschäft. C'est ça. Könnte ich Sie durch dieses Spital führen, Kommissär, durch diesen Sonnenstein, der mich zu dem gemacht hat, was ich nun bin, weder Weib noch Mann, nur Fleisch, das immer größere Mengen Morphium braucht, um über diese Welt die Witze zu machen, die sie verdient, so würde ich Ihnen, einem ausgedienten, erledigten Polizisten, einmal zeigen, wie die Reichen sterben. Ich würde Ihnen die phantastischen Krankenzimmer aufschließen, diese bald kitschigen, bald raffinierten Räume, in denen sie verfaulen, diese glitzernden Zellen der Lust und der Qual, der Willkür und der Verbrechen.»
Bärlach gab keine Antwort. Er lag da, krank und unbeweglich, das Gesicht abgewandt.
Die Ärztin beugte sich über ihn.
«Ich würde Ihnen», fuhr sie unbarmherzig fort, «die Namen derer nennen, die hier zugrunde gingen und zugrunde gehen, die Namen der Politiker, der Bankiers, der Industriellen, der Mätressen und der Witwen, ruhmreiche Namen und jene unbekannter Schieber, die mit einem Dreh, der ihnen nichts kostet, die Millionen verdienen, die uns alles kosten. Da sterben sie denn in diesem Spital. Bald kommentieren sie das Absterben ihres Leibes mit blasphemischen Witzen, bald bäumen sie sich auf und stoßen wilde Flüche über ihr Schicksal aus, alles zu besitzen und doch sterben zu müssen, oder plärren die widerlichsten Gebete hinein in ihre Zimmer voll von Brokat und Seide, um nicht die Seligkeit hienieden mit der Seligkeit des Paradieses vertauschen zu müssen. Emmenberger gewährt ihnen alles, und sie nehmen unersättlich, was er ihnen bietet; aber sie brauchen noch mehr, sie brauchen die Hoffnung: auch dies gewährt er ihnen. Doch der Glaube, den sie ihm schenken, ist der Glaube an den Teufel, und die Hoffnung, die er ihnen schenkt, ist die Hölle. Sie haben Gott verlassen, und einen neuen Gott gefunden. Freiwillig unterziehen sich die Kranken den Torturen, begeistert über diesen Arzt, um nur noch einige Tage, einige Minuten länger zu leben (wie sie hoffen), um sich nicht von dem zu trennen, was sie mehr als Himmel und Hölle lieben, mehr als all die Seligkeit und die Verdammnis: von der Macht und von der Erde, die ihnen diese Macht verlieh. Auch hier operiert der Chef ohne Narkose. Alles, was Emmenberger in Stutthof tat, in dieser grauen, unübersichtlichen Barackenstadt auf der Ebene von Danzig, das tut er nun auch hier, mitten in der Schweiz, mitten in Zürich, unberührt von der Polizei, von den Gesetzen dieses Landes, ja, sogar im Namen der Wissenschaft und der Menschlichkeit; unbeirrbar gibt er, was die Menschen von ihm wollen: Qualen, nichts als Qualen.»
«Nein», schrie Bärlach, «nein! Man muß diesen Menschen vernichten!»
«Dann müssen Sie die Menschheit vernichten», antwortete sie.
Er schrie wieder sein heiseres, verzweifeltes Nein und richtete mühsam seinen Oberkörper auf.
«Nein, nein!» kam es aus seinem Munde, doch konnte er nur noch
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