Der Verdacht
Schweigen beunruhigte. Sie streifte ihren rechten Ärmel hoch. In den Unterarm, tief ins Fleisch, war eine Ziffer gebrannt, wie bei einem Stück Vieh. «Muß ich Ihnen noch den Rücken zeigen?» fragte sie.
«Sie waren im Konzentrationslager?» rief der Kommissär bestürzt aus und starrte nach ihr, mühsam halb aufgerichtet, indem er sich auf den rechten Arm stützte.
«Edith Marlok, Häftling 4466 im Vernichtungslager Stutthof bei Danzig.»
Ihre Stimme war kalt und erstorben.
Der Alte fiel in die Kissen zurück. Er verfluchte seine Krankheit, seine Schwäche, seine Hilflosigkeit.
«Ich war Kommunistin», sagte sie und schob den Ärmel hinunter.
«Und wie konnten Sie das Lager überstehen?»
«Das ist einfach», antwortete sie und hielt seinen Blick so gleichgültig aus, als könne sie nichts mehr bewegen, kein menschliches Gefühl und kein noch so entsetzliches Schicksal:
«Ich bin Emmenbergers Geliebte geworden.»
«Das ist doch unmöglich», entfuhr es dem Kommissär.
Sie sah ihn verwundert an.
«Ein Folterknecht erbarmte sich einer dahinsiechenden Hündin», sagte sie endlich. «Die Chance, einen SS-Arzt zu ihrem Geliebten zu bekommen, haben nur wenige von uns Frauen im Lager Stutthof gehabt. Jeder Weg, sich zu retten, ist gut. Sie versuchen ja nun auch alles, vom Sonnenstein loszukommen.»
Fiebernd und zitternd versuchte er sich zum drittenmal aufzurichten. «Sind Sie immer noch seine Geliebte?»
«Natürlich. Warum nicht?»
Das könne sie doch nicht. Emmenberger sei ein Ungeheuer, schrie Bärlach. «Sie waren Kommunistin, da haben Sie doch Ihre Überzeugung!»
«Ja, ich hatte meine Überzeugung», sagte sie ruhig. «Ich war überzeugt, daß man dieses traurige Ding da aus Stein und Lehm, das sich um die Sonne dreht, unsere Erde lieben müsse, daß es unsere Pflicht sei, dieser Menschheit im Namen der Vernunft zu helfen, aus der Armut und aus der Ausbeutung herauszukommen. Mein Glaube war keine Phrase. Und als der Postkartenmaler mit dem lächerlichen Schnurrbart und der kitschigen Stirnlocke die Macht übernahm, wie der fachgemäße Ausdruck für das Verbrechen heißt, das er von nun an trieb, bin ich nach dem Lande geflüchtet, an das ich wie alle Kommunisten geglaubt habe, zu unser aller tugendhaftem Mütterlein, nach der ehrwürdigen Sowjetunion. O ich hatte meine Überzeugung und setzte sie der Welt entgegen. Ich war wie Sie entschlossen, Kommissär, gegen das Böse zu kämpfen bis an meines Lebens seliges Ende.»
«Wir dürfen diesen Kampf nicht aufgeben», entgegnete Bärlach leise, der schon wieder, vor Kälte schlotternd, in den Kissen lag.
«Dann schauen Sie in den Spiegel über Ihnen, möchte ich bitten», befahl sie.
«Ich habe mich schon gesehen», antwortete er, den Blick nach oben ängstlich vermeidend.
Sie lachte. «Ein schönes Skelett, nicht wahr, grinst Ihnen da entgegen, den Kriminalkommissär der Stadt Bern darstellend! Unser Lehrsatz vom Kampf gegen das Böse, der nie, unter keinen Umständen und unter keinen Verhältnissen aufgegeben werden darf, stimmt im luftleeren Raum oder, was dasselbe ist, auf dem Schreibtisch; aber nicht auf dem Planeten, auf dem wir durch das Weltall rasen wie Hexen auf einem Besen. Mein Glaube war groß, so groß, daß ich nicht verzweifelte, als ich in das Elend der russischen Massen einging, in die Trostlosigkeit dieses gewaltigen Landes, das keine Gewalt, sondern nur noch die Freiheit des Geistes zu adeln vermöchte. Als die Russen mich in ihre Gefängnisse vergruben und mich, ohne Verhör und ohne Urteil, von einem Lager ins andere schoben, ohne daß ich wußte wozu, zweifelte ich nicht, daß auch dies im großen Plan der Geschichte einen Sinn habe. Als der famose Pakt zustande kam, den Herr Stalin mit Herrn Hitler schloß, sah ich dessen Notwendigkeit ein, galt es doch, das große kommunistische Vaterland zu erhalten. Als ich jedoch eines Morgens nach wochenlanger Fahrt in irgendeinem Viehwagen von Sibirien her von russischen Soldaten tief im Winter des Jahres vierzig, mitten in einer Schar zerlumpter Gestalten, über eine jämmerliche Holzbrücke getrieben wurde, unter der sich träge ein schmutziger Fluß dahinschleppte, Eis und Holz treibend, und als uns am ändern Ufer die aus den Morgennebeln tauchenden schwarzen Gestalten der SS in Empfang nahmen, begriff ich den Verrat, der da getrieben wurde, nicht nur an uns gottverlassenen armen Teufeln, die nun Stutthof entgegenwankten, nein, auch an der Idee des Kommunismus selbst, der doch nur
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