Der Verdacht
wir hier in der Schweiz teilhaben, da auch wir die gleichen Keime des Unglücks in uns tragen, die Sittlichkeit für unrentabel und das Rentable für sittlich zu halten; sie sollte endlich einmal an dieser durch das bloße Wort gefällten Bestie von einem Massenmörder lernen, daß der Geist, den man mißachtet, auch die schweigenden Münder aufbricht und sie zwingt, ihren eigenen Untergang herbeizuführen.
So sehr dieser hochtrabende Text Bärlachs ursprünglichem Plane entsprach, der recht simpel und unbekümmert darauf ausgegangen war, Emmenberger einzuschüchtern – das andere würde sich dann schon irgendwie geben, hatte er mit der fahrlässigen Selbstsicherheit eines alten Kriminalisten gedacht –, so unbestechlich erkannte er nun, daß er sich geirrt hatte. Der Arzt konnte bei weitem nicht als ein Mann gelten, der sich einschüchtern ließ. Fortschig schwebte in Todesgefahr, fühlte der Kommissär, doch hoffte er, daß sich der Schriftsteller schon in Paris und damit in Sicherheit befinde.
Da schien sich Bärlach unvermutet eine Möglichkeit zu bieten, mit der Außenwelt in Verbindung zu treten.
Ein Arbeiter betrat nämlich den Raum, Dürers ‹Ritter, Tod und Teufel› in einer vergrößerten Wiedergabe unter dem Arm. Der Alte schaute sich diesen Mann genau an, es war ein gutmütiger, etwas verwahrloster Mensch von nicht ganz fünfzig Jahren, wie er schätzte, in einer blauen Arbeitskleidung, der auch gleich die ‹Anatomie› abzumontieren begann.
«He!» rief ihn der Kommissär. «Kommen Sie her.»
Der Arbeiter montierte weiter. Manchmal fiel ihm eine Zange auf den Boden, oder ein Schraubenzieher, Gegenstände, nach denen er sich umständlich bückte.
«Sie!» rief Bärlach ungeduldig, da sich der Arbeiter nicht um ihn kümmerte: «Ich bin der Polizeikommissär Bärlach. Verstehen Sie: ich bin in Todesgefahr. Verlassen Sie dieses Haus, wenn Sie Ihre Arbeit beendigt haben, und gehen Sie zu Inspektor Stutz, den kennt doch hier jedes Kind. Oder gehen Sie zu irgendeinem Polizeiposten und lassen Sie sich mit Stutz verbinden. Verstehen Sie? Ich brauche diesen Mann. Er soll zu mir kommen.»
Der Arbeiter kümmerte sich immer noch nicht um den Alten, der mühsam in seinem Bett die Worte formulierte – das Sprechen fiel ihm schwer, immer schwerer. Die ‹Anatomie› war abgeschraubt, und nun untersuchte der Arbeiter den Dürer, sah sich das Bild genau an, bald aus der Nähe, bald hielt er es mit beiden Händen von sich weg, ein hohles Kreuz machend. Durch das Fenster fiel milchiges Licht. Einen Augenblick lang schien es dem Alten, er sehe hinter weißen Nebelstreifen einen glanzlosen Ball dahinschwimmen. Das Haar und der Schnurrbart des Arbeiters leuchteten auf. Es hatte draußen zu regnen aufgehört. Der Arbeiter schüttelte mehrmals den Kopf, das Bild schien ihm unheimlich vorzukommen. Er wandte sich kurz zu Bärlach und sagte in einer sonderbaren, überdeutlich formulierten Sprache ganz langsam, mit dem Kopf hin und her wackelnd:
«Den Teufel gibt es nicht.»
«Doch», schrie Bärlach heiser: «Den Teufel gibt es, Mann! Hier in diesem Spital gibt es ihn. He, hören Sie doch! Man wird Ihnen ja wohl gesagt haben, ich sei verrückt und schwätze unsinniges Zeug, aber ich bin in Todesgefahr, verstehen Sie doch, in Todesgefahr: Dies ist die Wahrheit, Mann, die Wahrheit, nichts als die Wahrheit!»
Der Arbeiter hatte nun das Bild angeschraubt und kehrte sich zu Bärlach um, grinsend auf den Ritter zeigend, der so unbeweglich auf seinem Pferd saß, und stieß einige unartikulierte, gurgelnde Laute aus, die Bärlach nicht sofort verstand, die sich endlich aber doch zu einem Sinn formten:
«Ritter futsch», kam es langsam und deutlich aus dem verkrampften, schrägen Maul des Mannes mit dem blauen Kittel: «Ritter futsch, Ritter futsch!»
Erst als der Arbeiter das Zimmer verließ und die Türe ungeschickt hinter sich zuschmetterte, begriff der Alte, daß er mit einem Taubstummen geredet hatte.
Er griff zur Zeitung. Es war das ‹Bernische Bundesblatt›, das er entfaltete.
Das Gesicht Fortschigs war das erste, was er sah, und unter der Fotografie stand: Ulrich Friedrich Fortschig, und daneben: ein Kreuz.
Fortschig †
‹ D as unselige Leben des vielleicht doch mehr berüchtigten als bekannten Berner Schriftstellers Fortschig hat in der Nacht vom Dienstag auf den Mittwoch sein nicht ganz geklärtes Ende gefunden› – las Bärlach, dem es war, als drückte ihm jemand die Kehle zu. – ‹Dieser Mann›,
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