Der vergessene Strand
damit kontern, dass sie als werdende Mutter endlich erfahren musste, woher sie kam.
Ihre Schwangerschaft war ihre stärkste Waffe.
Am nächsten Tag wurde ihre Mutter aus dem Krankenhaus entlassen. Michael fuhr sie nach Hause. Amelie entschuldigte sich. Die Ausrede, es ginge ihr nicht gut, war nicht mal gelogen. Ihr war schwindelig, und sie hätte den ganzen Tag nur schlafen können.
«Sie hat wieder mit unserer Hochzeit angefangen», sagte Michael, als er zurück war. «Ob wir im August oder September …»
Das waren nicht mal mehr drei Monate.
«Ich weiß nicht», sagte Amelie. Sie setzte sich auf. Michael ging langsam durchs Wohnzimmer und ließ sich in den Sessel fallen. «Was denkst du?»
Er zuckte mit den Schultern. «Ich hab nichts dagegen.»
Sie hätte nicht fragen dürfen. Amelie räumte die Bücher weg, die sie aus dem Regal gezogen hatte, weil sie glaubte, die Müdigkeit ließe sich durch spannende Lektüre vertreiben.
«Ich bin noch nicht so weit.»
«Das verstehe ich», versicherte er ihr.
Am Nachmittag hatte sie dann ihren ersten Vorsorgetermin beim Frauenarzt. Michael bestand darauf, sie hinzufahren, das ließ sie zu, weil sie sich ein bisschen zu schlapp fühlte, um selbst zu fahren. Aber dann musste er im Auto warten. Sie wusste, leicht machte sie es ihm nicht. Aber im Moment wollte sie vor allem, dass es für sie selbst irgendwie erträglich war. Und ihn neben sich zu haben, während sie das erste Mal das kleine Wunder auf dem Ultraschall bestaunte, kam einfach nicht in Frage.
Die Praxis von Dr. Troban lag im Erdgeschoss seiner wunderschönen Zehlendorfer Villa inmitten eines großen, verwilderten Gartens. Die Räume waren hell und hoch, die Helferinnen allesamt hübsch und freundlich. Dr. Troban selbst war inzwischen über sechzig, die Haare ergraut, die Augenbrauen buschig. Sie mochte seine Art, die so freundlich und bestimmt war.
Alles sei in bester Ordnung, versicherte ihr der Arzt, nachdem er sie gründlich untersucht hatte. Sie müsse sich nicht sorgen und solle einfach so weitermachen wie bisher. Nur ihr Blutdruck sei ein wenig zu hoch. «Haben Sie Stress?»
Sie brach in Tränen aus.
«Na, na», murmelte Dr. Troban. Er beugte sich vor und tätschelte ihre Hand. Als Nächstes drückte er ihr ein Papiertaschentuch zwischen die Finger und ließ ihr Zeit, sich auszuweinen, obwohl sie wusste, dass sein Wartezimmer voll war. Vermutlich war er gefühlsduselige Schwangere gewohnt, und so was brachte ihn gar nicht mehr aus der Ruhe.
«Es ist nur so … viel», seufzte sie schließlich. «Mein Freund und ich … er wird in Kürze schon Vater, da war was mit einer Kollegin. Meine Mutter ist krank. Sie hat mich all die Jahre belogen, verstehen Sie? Nie hat sie mir etwas über meinen Vater erzählt, und jetzt stoße ich rein zufällig auf meine Vergangenheit, und immer noch weigert sie sich, mit mir über ihn zu reden.»
«Und Sie wollen natürlich Antworten, weil Sie selbst bald Mutter werden.»
«Ist das denn so schwer zu verstehen?», begehrte sie auf.
Außerdem gibt es da einen Mann, den ich sehr vermisse, dachte sie. Aber das darf ich mir gar nicht erst eingestehen. Dann wird das Leben ja noch komplizierter.
«Natürlich verstehe ich Sie. Aber Ihre Mutter hat bestimmt gute Gründe dafür, dass sie sich nicht auf diese Diskussionen einlässt. Manches geht selbst die Kinder nichts an.»
«Auch wenn es meine eigene Vergangenheit ist? Es geht um meinen Vater, den ich nie kennenlernen durfte.»
Dr. Troban zögerte. «Ich kann mir da kein Urteil erlauben», meinte er. «Aber wie gesagt, manchmal gibt es eben gute Gründe.»
Amelie musste wieder an die Panikattacke denken, die sie beim Betreten des Krankenhauszimmers bekommen hatte, in dem ihre Mutter gelegen hatte. Sie hatte wirklich geglaubt, Jonathan stünde hinter ihr. Grandpa, so hatte sie ihn genannt.
«Kann es sein, dass ein Kind die Erinnerung an alles verliert, das vor einem bestimmten Zeitpunkt passiert ist?», fragte sie. «Und kann man diese Erinnerungen irgendwie … zurückholen?»
«Hm», machte Dr. Troban. Er lehnte sich zurück. «Ein Trauma kann das verursachen. Wenn Sie etwas Schreckliches erlebt haben als Kind …»
«Das weiß ich eben nicht. Ich vermute es nur.»
«Vielleicht sollten Sie mal einen Psychologen aufsuchen. Ich gebe Ihnen die Adresse eines Kollegen, der kann Sie vielleicht kurzfristig empfangen.» Er suchte aus dem Rollodeck auf seinem Schreibtisch ein Kärtchen und schrieb ihr die
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