Der vergessene Strand
hoffte. Irgendwas. Vielleicht eine Erklärung. Fotos, Briefe, Zeitungsausschnitte. War das nicht immer so? Stolperte in solchen Geschichten die Heldin nicht zufällig über Beweise für ein altes Familiengeheimnis, das zu schrecklich war, als dass man darüber reden konnte?
Hier gab es nichts dergleichen. Amelie fand alte Fotoalben, doch die umfassten die Zeit bis vier oder fünf Jahre vor ihrer Geburt und setzten erst zehn Jahre später, nach ihrer Rückkehr nach Deutschland, wieder ein. Dazwischen fehlte ein ganzes Jahrzehnt – ausradiert, vom Radar der Familienerinnerung getilgt.
Was war nur so Schlimmes geschehen, dass keiner der Beteiligten ein Wort darüber verlor? Warum wollten sie es für sich behalten?
Am Ende fand sie nur das Familienstammbuch. Darin ihre Geburtsurkunde. Keine Heiratsurkunde.
Dabei hatte Jonathan doch gesagt, dass Susanne und David verheiratet gewesen seien.
Amelie schaute sich die Geburtsurkunde genauer an. Sie kannte das Dokument natürlich. Früher hatte sie es immer mal wieder gebraucht, zuletzt für ihre Anmeldung zur Masterprüfung. Das zuständige Standesamt war hier in Berlin, aber als Geburtsort war angegeben: Pembroke.
Warum nur war ihr das bisher nie aufgefallen? Und warum hatte sie nie danach gefragt? Sie schloss das Familienbuch und legte es zurück in die Schublade.
Im Schlafzimmer hatte ihre Mutter einen Sekretär stehen, der immer abgeschlossen war. Schon als Kind hatte dieses Möbel auf sie eine ungeheure Anziehungskraft ausgeübt. Manchmal, wenn sie allein war, hatte sie versucht, es zu öffnen. Stundenlang hatte sie mit einer Haarnadel in dem Schloss gewühlt, hatte die halbe Wohnung auf der Suche nach dem Schlüssel auf den Kopf gestellt.
Diesmal holte sie aus der Küche ein langes Messer, um das Schloss mit Gewalt aufzubrechen. Ihre Geduld war zu Ende. Verdammt, ja, sie würde sich später schäbig fühlen, weil sie ihre Mutter hinterging. Die Kerbe, die sie in das zarte Kirschholz grub, würde sie immer daran erinnern.
Der Sekretär enthielt Briefe, Postkarten, Fotos. Erinnerungen. Amelie zog den Stuhl heran und begann, in den Sachen zu kramen – ganz vorsichtig und, wie sie sich einredete, mit viel Respekt vor der Privatsphäre ihrer Mutter. Es ging sie nichts an, was in den letzten 25 Jahren passiert war. Aber es ging sie sehr wohl etwas an, was davor geschehen war.
Schließlich fand sie, wonach sie suchte – ganz hinten, in einem braunen Briefumschlag, steckte ein halbes Dutzend Postkarten. die Amelie vorsichtig heraus zog. Sie waren vollkommen vergilbt. Die Motive waren: Paris. Stockholm. Rom. Wieder Paris. New York und zu guter Letzt Hamburg.
Die Schrift war krakelig und unleserlich, verfasst waren die Karten auf Englisch.
Liebe Susan, stand auf der ersten. Sie war aus Paris abgeschickt worden . Die Stadt der Liebe, und ich hasse es hier. Bleibe noch vier Tage, danach geht es weiter. Grüße an die Familie! Dein …
Der Name war mit einem einfachen Buchstaben abgekürzt, einem D oder B oder R, so genau wusste Amelie das nicht zu sagen, beschloss aber nach dem Studium der anderen Karten, dass es sich um ein D handeln musste. Die Postkarten waren auf die frühen achtziger Jahre datiert. Als sie selbst noch ganz klein war.
Und hatten bis zuletzt Zweifel bestehen können, dass Jonathans Version der Geschichte stimmen könnte, wurden sie jetzt ausgeräumt. Adressiert war die Karte an
Susan Bowden, 45 Main Street, Pembroke, U.K.
Sie zitterte. Jetzt hielt sie den Beweis in Händen für etwas, das sie vorher nur als eine Möglichkeit in Betracht gezogen hatte: Ihre Mutter hatte sie all die Jahre belogen. Hatte ihr die Vergangenheit verschwiegen, einen großen Bogen darum gemacht.
Sie hatte Amelie die Kindheit in Pembroke einfach gestohlen.
Aber warum?
Sie las die anderen Karten. Aus Rom schrieb ihr Vater, es sei zu heiß, er sehne sich nach dem kühlen Meer von Pembroke. Grüße an die Familie. Aus Hamburg schrieb er, dass der Hafen wunderschön sei: John hätte Spaß daran. Aus Stockholm schrieb er von hellen Nächten und sprach seine Sehnsucht nach daheim aus. Alle Karten waren voller Sehnsucht nach daheim, aber sehr kontrolliert, sehr versteckt war dieses Sehnen. Wie ein Code, den nur die beiden Liebenden verstanden.
Sie packte die Karten zurück in den Umschlag, räumte alles andere wieder an Ort und Stelle und schloss den Sekretär. Man sah, wo sie das Schloss beschädigt hatte, aber falls ihre Mutter sie zur Rede stellte, würde Amelie
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