Der vergessene Strand
alles gefügt. Was nicht Annes Art war.
Inzwischen hatte in London das Gerücht die Runde gemacht, Anne sei nach schwerer Krankheit auf dem Wege der Besserung. Der Duke schrieb darauf an Beatrix.
Und?
Nur dieses eine Wort. Sie ließ ihre Koffer packen.
Solange sie selbst nicht wusste, was los war, würde sie darauf nicht antworten.
In einer Hinsicht hatte Anne recht: In Wales regnete es im Frühjahr sehr viel. Im Zug drückte sich der kleine Henry immer wieder die Hände und das Gesicht an der Fensterscheibe platt, weil die Felder unter Wasser standen. Schwerfällig und gebeugt schlichen die Bauern über ihre Äcker, sie sammelten die Steine zwischen den Pflanzreihen auf und hoben nur selten den Kopf, um dem Zug nachzuschauen.
Niemand erwartete sie in Pembroke am Bahnhof, was kein Wunder war: Beatrix hatte darauf verzichtet, ihre Ankunft vorher anzukündigen. Im einzigen Gasthof des Ortes kannte man sie bereits und richtete rasch ein Zimmer für sie her. Die junge Tochter des Wirts antwortete auf Beatrix’ Fragen munter und ohne jeden Arg. Ja, sie habe auch gehört, dass das Kleine von Miss Anne tot geboren sei. Ja, das sei wirklich sehr schade, sie habe sich doch so aufs Kind gefreut, und jetzt sei sie immer so traurig. Man sehe sie wie einen Geist durch den Ort wandern, und Franny hatte sie auch entlassen.
Beatrix hörte sich das alles aufmerksam an. Nichts, weshalb man sich Sorgen machen müsste, dachte sie, es klang gerade so, als stimmte alles, was Anne in ihren Briefen schrieb. Und dennoch – ein Zweifel blieb.
Also ging sie zu Anne.
Ihre Schwester öffnete selbst die Tür. Ihr Erstaunen wich einem winzigen Schreck, der aber ebenso schnell wieder verschwand. Dann trat sie einen Schritt beiseite und ließ Beatrix eintreten.
«Ich habe nicht mit dir gerechnet», sagte sie. «Hallo, kleiner Henry.»
Das Kind grüßte artig. Er stand geduldig neben Beatrix und wartete, bis sie den Mantel ausgezogen hatte, um ihn mit erstaunlicher Ernsthaftigkeit zur Garderobe zu schleppen. Weil er viel zu klein war, um an die Haken zu reichen, legte er den Mantel sorgsam über die Truhe. Beatrix löste ihre Haarnadeln. Anne stand mit einem langärmeligen Wollkleid im engen Flur, die Hände umklammerten ihre Ellbogen.
«Du siehst müde aus», bemerkte Beatrix.
«Ich schlafe wenig.»
«Du hast Franny entlassen?»
«Es ging nicht mehr, ja.»
Wieso es nicht mehr ging, hätte Beatrix sehr interessiert. Doch sie hakte nicht nach. In der Stube war leidlich geheizt. Beatrix fröstelte. Seit sie schwanger war, fror sie mehr als sonst.
«Ich mache uns Tee.» Die Tür klappte hinter Anne zu. Auf dem Sofa ein Körbchen mit Annes Handarbeiten, sonst war alles aufgeräumt. Ihre Schwester hielt Ordnung. Das war neu.
Der Tee war etwas zu stark für Beatrix’ Geschmack, die Kekse zu trocken. Dennoch nickte sie beifällig. «Was war denn nun mit Franny los?», fragte sie.
«Weggelaufen ist sie.» Düster und beinahe grimmig rührte Anne ihren Tee. «Hat mich im Stich gelassen.»
«Ach. So hätte ich sie gar nicht eingeschätzt.»
«So ist sie aber nun mal.» Anne seufzte. Sie sprang auf. «Ihr bleibt doch länger, ja? Ich werde mich ums Abendessen kümmern müssen. Ich war auf Gäste nicht eingestellt.»
«Mach dir unseretwegen keine Umstände. Wir können gemeinsam im Gasthaus essen gehen.»
Anne verschwand trotzdem in der Küche. Beatrix schärfte Henry ein, auf dem Sofa sitzen zu bleiben – eine Anweisung, der dieses Kind anstandslos gehorchte –, und folgte ihrer Schwester.
«Bumble.»
Anne fuhr herum. Sie stand am Herd, sichtlich erschrocken.
«Warum erzählst du mir nicht, was wirklich passiert ist?»
«Das hab ich doch.» Anne räusperte sich. Ihre Hand fuhr über den Tisch, dann sank Anne auf einen Schemel. «Franny ist fort, sie hat mich im Stich gelassen, und …»
«Wir wissen beide, dass das gelogen ist.»
«Aber was soll ich denn machen!», rief Anne verzweifelt. Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte haltlos.
Beatrix setzte sich zu ihr. «Du könntest mir alles erzählen. Schau, ich war doch immer für dich da. Daran wird sich nichts ändern. Aber du musst ehrlich zu mir sein. Wie soll ich dir helfen können, wenn du mir nicht vertraust?»
Anne schüttelte stumm den Kopf.
«Bitte, Bumble. Was willst du denn erst machen, wenn du im Herbst fortgehst? Oder willst du dich alle Jahre zurück nach Pembroke schleichen, nur, um zu sehen, wie deine Tochter hier aufwächst?»
«Du weißt es.»
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