Der vergessene Strand
länger, mit ihrer Mutter in einem Raum zu sein. Aber eine Frage hatte sie noch.
«Es hat nichts mit Pembroke zu tun, oder?», fragte sie leise.
Die Miene ihrer Mutter war für Amelie wie ein offenes Buch. Sie bemerkte dieses winzige Zucken. Wie der Blick zur Seite und nach unten huschte.
«Was ist denn mit Pembroke?»
«Tu nicht so. Du weißt genau, was dort passiert ist.»
Jedes Wort ein Peitschenhieb. Amelies Mutter starrte sie entsetzt an, als könnte sie nicht glauben, dass sie immer noch bei ihr saß, obwohl sie Bescheid wusste.
«Hättest du nicht gedacht, was? Dabei hat Michael dir doch alles erzählt, oder? Dass ich bei Grandpa war? Wir haben uns das Familienalbum angeschaut, weißt du? Ich hab sie alle gesehen – meine Urgroßeltern. Die vielen Menschen, die meine Familie sind. David. Reginald. Amy. Amy! Wieso hast du mir meinen Namen genommen? Wieso mussten wir damals fortgehen, Mama? Und wo ist mein Vater jetzt?» Ihre Stimme wurde laut.
«Kind …» Ihre Mutter wurde blass. Sie griff sich ans Herz, die linke Hand tastete auf der Bettdecke nach dem Rufknopf. «Bitte, ich …»
«Ich will Antworten. Du hast mich hergelockt, weil …» Sie spürte die Tränen, fuhr wütend herum und stürmte aus dem Zimmer. Zwei Schwestern kamen über den Gang gelaufen, sie verschwanden im Zimmer ihrer Mutter. Michael, der ein Stück weiter im Wartebereich gesessen und eine Fachzeitschrift gelesen hatte, sprang auf.
«Alles in Ordnung?»
«Bestens!», fauchte sie. Jetzt lief noch eine Ärztin vorbei und verschwand hinter der beigefarbenen Tür. «Ich will gehen.»
«Ist mit deiner Mutter alles in Ordnung?»
Amelie stürmte an ihm vorbei. Sie bekam Beklemmungen von diesem verfluchten Krankenhaus, ohne genau zu wissen, woher dieses Gefühl kam.
Sie wollte Antworten. Und im Moment gab es nur einen Ort, wo sie diese Antworten bekam.
Meine liebe Bee,
verzeih, ich habe mich ein paar Tage nicht gemeldet. Tatsächlich ist nun schon über eine Woche ins Land gegangen seit meinem letzten Brief.
Hier in Wales sind die Frühlingsmonate feucht und kalt, und mich plagen schon seit Tagen Rückenschmerzen, die ich zunächst auf die kalte Nässe schob. Bis ich vor drei Tagen morgens aufwachte und die Schmerzen plötzlich so schlimm waren, dass für mich kein Zweifel mehr bestand, was mit mir geschah.
Dir dies zu schreiben fällt mir nicht leicht, denn meine schwere Stunde war auch die schwerste meines bisherigen Lebens. Ich habe G-s Tochter zur Welt gebracht, nur, um sie schon am nächsten Tag begraben zu lassen.
Sie war ein wunderschönes Kind, zart und wunderhübsch. Die Haare blond. Die Augen hat sie nicht geöffnet, ich stell mir aber gern vor, dass auch sie wie die ihres Vaters waren. Sie lag noch warm von meinem Leib und innerlich schon kalt in meinen Armen. Franny musste sie mir fast mit Gewalt entreißen, weil ich sie nicht loslassen wollte.
Nun liege ich hier, und der Schmerz ist zu groß, um die richtigen Worte zu finden. Ich habe sie auf den Namen Antonia taufen lassen, bestattet wurde sie aber anonym, das hielt ich für klüger.
Ich hoffe, in deinem Sinn gehandelt zu haben.
Die nächsten Monate bin ich also das, was du überall erzählst: krank. Ich bin krank vor Kummer. Bitte, lass mich noch ein Weilchen hierbleiben. Ich komme zurück, ich werde Sir Cornelius heiraten, und alles wird so sein, wie du es dir gewünscht hast. Aber gib mir die Zeit, mich von meinem Kind und der Liebe meines Lebens zu verabschieden.
Deine Bumble.
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Kapitel 18
D er Schlüssel lag unter der Fußmatte. So viel Vertrauen in die Menschheit gehörte im Grunde bestraft. Amelie schloss die Wohnungstür auf und schob sie behutsam hinter sich zu. Bloß keinen von den Nachbarn aufschrecken, nachher riefen die noch die Polizei. In diesem Haus achteten die Leute aufeinander, viele wohnten schon seit über zwanzig Jahren hier.
Sie ging zuerst ins Wohnzimmer. Der wuchtige Schrank reichte bis unter die Decke, ein scheußliches Monstrum. Relikt jener Zeit, als in jedem Wohnzimmer so ein Ding stand und alles barg, was eben zu einem Hausstand gehörte: das gute Sonntagsgeschirr, das Silberbesteck, Glückwunschkarten zur Hochzeit, zur Taufe und zu anderen Familienanlässen, alles fein gebündelt. Liebesbriefe, alte Tagebücher, Tischdecken und Videokassetten.
Sie ließ zuerst die Jalousie herunter und schaltete das Licht ein. Dann begann sie mit der Suche.
Im Grunde wusste sie nicht, was genau sie zu finden
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