Der vergessene Strand
Nummer auf. «Professor Dr. Christian Vögedes. Eine Koryphäe auf seinem Gebiet.»
«Vielen Dank.» Eigentlich hatte Amelie keine Lust, sich plötzlich von einem Psychodoc in den Kopf schauen zu lassen, ohne zu wissen, was sie da erwartete. Vielleicht sollte sie lieber zurück nach Pembroke. Dort warteten nicht nur die Arbeit an ihrem Buch, sondern auch die Erinnerungen.
Und Dan.
Michael telefonierte, als sie zu ihm ins Auto stieg. Er beendete das Gespräch hastig.
«Und?», fragte er neugierig. «Hast du ein Foto?»
Sie gab ihm das Ultraschallfoto. Es rührte sie, wie andächtig er es betrachtete. «Wunderschön», behauptete er, obwohl man noch gar nicht viel erkennen konnte. Vermutlich könnte er ihr Kind und Sabinas überhaupt nicht voneinander unterscheiden, wenn sie ihm das andere Ultraschallbild zeigte.
Schließlich gab er ihr das Foto zurück, und sie legte es in ihren Taschenbegleiter, ohne noch einmal einen Blick draufzuwerfen.
«Fahren wir zu deiner Mutter?», fragte er. «Sie will das Foto bestimmt auch sehen und …»
«Michael.» Amelie unterbrach ihn beinahe wütend. «Ich möchte im Moment mit Mama nicht so viel zu tun haben.»
Er hob nur die Augenbrauen und fragte nicht nach. Immerhin.
«Solange sie nicht auf meine Fragen antwortet, habe ich ihr nichts zu sagen.»
«Du machst damit im Grunde das Gleiche wie sie. Ist aber natürlich deine Entscheidung», gab er sich friedfertig.
«Wie meinst du das?»
«Du enthältst ihr die Familie vor. Deine Familie. Dasselbe hat sie auch gemacht, ja. Okay. Aber sie wird Gründe dafür haben.»
«Ich glaub einfach, dass ihre Herzgeschichte nicht mehr ist als eine … Übertreibung.»
«Sie simuliert, willst du das damit sagen?»
Sie seufzte. «Nein. So meine ich das nicht. Ich glaube schon, dass sie Herzrasen bekommen hat, dass es ihr schlechtging und so weiter.» Sie machte eine unbestimmte Bewegung, die Michael mit der rechten Hand nachahmte, während er mit der Linken lässig den Wagen durch den nachmittäglichen Verkehr lenkte. «Und dann hat sie das alles etwas übertrieben. Es schlimmer dargestellt, als es tatsächlich ist, damit ich aus Pembroke zurückkomme.»
«Ich hab auch nichts dagegen, dass du wieder hier bist.»
Natürlich nicht. Alle waren froh und glücklich, Amelie war wieder daheim. Jetzt war der richtige Moment gekommen, um das Kinderzimmer zu renovieren, erste Babysachen zu kaufen und all das zu tun, was junge, werdende Mütter eben tun mussten.
Heiraten, wenn sie es nicht schon längst getan hatten, zum Beispiel.
«Ich weiß nicht, ob ich bleiben kann», wisperte sie mit abgewandtem Kopf. Hatte er sie gehört? Es war im Grunde egal, denn er hatte ja beschlossen, wie es weiterging: Kinderzimmer renovieren. Bärchentapete kleben. Möbel kaufen. Hochzeit im September, wie es die ganze Zeit geplant gewesen war.
Offenbar konnte sie jetzt gar nichts mehr entscheiden. Denn jetzt musste es allein um das Wohl des Kindes gehen, nicht wahr?
Etwas am Brief ihrer Schwester ließ Beatrix keine Ruhe. Sie machte sich Sorgen.
Anne klang so verändert. Die Nachricht vom Tod der kleinen Tochter war beinahe zu nüchtern für ihre Schwester. Natürlich, das konnte auch an dem Schock liegen, immerhin hatte sie gerade ihr Kind verloren. Beatrix las den Brief immer wieder. Sie spürte, dass mehr dahinterstecken musste. Ihr Gespür als Mutter ließ sämtliche Alarmglocken schrillen.
Dennoch erzählte sie Trisk vom Tod des Kindes; und er war sichtlich erleichtert. Als Beatrix ihm vorschlug, Anne für die nächsten Monate in Pembroke zu lassen, wie sie es ursprünglich geplant hatten, winkte er ab. Dafür könne er auch noch aufkommen, das sei ja kein Problem.
Nachdem sie ihm von ihrer jüngsten Schwangerschaft erzählt hatte, war das passiert, was schon bei den ersten geschehen war. Er hatte sich mit ihr gefreut, weil er Kinder liebte und weil er sie liebte. Dann hatte sich in die gemeinsamen Nächte eine gewisse Scheu eingeschlichen, und als man ihrem nackten Körper allzu bald ansah, dass sie ihn nicht mehr allein bewohnte (wie er es nannte), zog er sich vollständig von ihr zurück.
Nachts blieb er fort, und wenn er zurückkam, roch er nach dem Parfüm anderer Frauen. In der Zeitung tauchte er wieder an gewohnter Stelle auf – die Gesellschaftskolumnisten wussten wie immer mehr als Beatrix.
Beatrix erhielt weitere Briefe von Anne, die in einer merkwürdigen Heiterkeit verfasst waren, gerade so, als habe ihre Schwester sich in
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