Der vergessene Strand
drehte, hatte sie dank ihrer Recherchen in der dann doch erstaunlich ergiebigen Bibliothek rasch abschließen können.
1900 hatte Beatrix Lambton einige Wochen in der Stadt verbracht. Sie war nach dem Tod ihrer jüngeren Schwester, die kurz nach der Hochzeit mit einem jungen Peer bei der Geburt ihres ersten Kindes verstarb, hergekommen und geblieben. Amelie wusste nicht so genau, warum. Vielleicht hatte sie Abstand gebraucht von der Gesellschaft, und sie hatte die Ruhe, nach der sie suchte, nur hier gefunden.
Aber was war mit den Briefen der Lambton-Schwestern passiert? Amelie beschloss, noch heute die Adressen von Mr. Bowden und Mr. Biggs in Erfahrung zu bringen und die beiden Männer anzurufen. Vielleicht konnte sie sich mit beiden treffen und ihr Anliegen vortragen.
Aber erst mal brauchte sie ein neues Hotelzimmer. Als sie nach dem Frühstück nach oben gehen wollte, räusperte sich Mr. Rowles hinter der Rezeptionstheke. Er winkte ihr, näher zu kommen, und schob ihr einen gefalteten Zettel zu.
«Hotels», sagte er. «Tut mir leid, dass Sie nicht hierbleiben können. Meine Frau …» Er senkte die Stimme zu einem Flüstern. «Sie müssen das verstehen.»
Amelie verstand überhaupt nichts. Aber sie lächelte zurückhaltend und bedankte sich für die Liste.
Als sie im Badezimmer stand und sich die Zähne putze, musste sie sich plötzlich hinsetzen. Sie ließ sich auf den Badewannenrand sinken. Ihr war schwindelig. Jetzt kam die Übelkeit sogar schon morgens. Sie wartete ein paar Minuten, nahm die Zahnbürste aus dem Mund und horchte in sich hinein. Nichts. Nur diese lästige Übelkeit.
Hoffentlich hörte das bald auf. Aber wenn sie nicht mehr jeden Abend mit Michaels Mailboxnachrichten konfrontiert wurde, würde es sicher irgendwann vorbei sein.
Sie musste positiv denken, leider bisher nicht gerade ihre Stärke.
Sie wartete ein paar Minuten, dann stand sie auf, spülte den Mund aus und machte sich fertig. Zehn Minuten später war sie auf dem Weg in Richtung Innenstadt. Sie wollte zuerst bei Mathilda fragen, ob sie ein Zimmer frei hatte.
Als sie in die Bücherei kam, war Cedric gerade damit beschäftigt, neue Bücher einzuräumen. Sie wünschte ihm einen guten Morgen und stellte einen Pappbecher mit Kaffee auf seinen Schreibtisch. Er lächelte zufrieden. Dass sie ihm Kaffee mitbrachte, hatte sich nach zwei, drei Tagen eingebürgert, weil er sich über seine Frau beklagt hatte, die ihm immer nur Tee vorsetzte.
Weiter hinten in der Bücherei, zwischen dem Regal mit Computerratgebern und dem mit den Reiseführern, hatte sie an einem großen Tisch ihren Stammplatz. Hierher verirrten sich nur selten Besucher – die Pembroker schienen weder besonders computeraffin noch reiselustig zu sein. Und sie konnte die Bücher über Nacht auf dem Tisch liegen lassen.
Sie hatte sich gerade eingerichtet, als Cedric kam und ihr ein Tellerchen mit Keksen hinstellte. «Die mit Ingwer.» Er zwinkerte ihr zu. Essen war in dieser Bücherei wie in allen Bibliotheken auf der Welt verboten, aber als Stammgast und Kaffeebringdienst genoss man offenbar einige Vorzüge.
«Danke, Cedric.»
Heute fiel es ihr schwer, sich zu konzentrieren. Ständig schweiften ihre Gedanken ab – zu Michael, zu der Frage, wo sie ab morgen schlafen sollte. Warum Mrs. Rowles so komisch zu ihr war und warum Mr. Rowles meinte, das müsse sie verstehen.
Es klang fast so, als habe Mrs. Rowles etwas gegen Amelie. Dabei war sie ein braver, sauberer Hotelgast. Sie war kein Rockmusiker, der Mobiliar zerschlug, und sie lag abends um neun meistens im Bett.
«Ich geh zu Mr. Bowden und Mr. Biggs», verkündete sie nach einer Stunde, in der sie nur Löcher in die Luft gestarrt hatte. Die Adressen der beiden Männer hatte sie schon vorher aus dem Telefonbuch gesucht, doch keiner war telefonisch erreichbar gewesen, wenngleich Cedric ihr versichert hatte, dass sie in Pembroke lebten und er sie sogar kenne.
«Sehen wir uns denn heute Mittag bei Mathilda?» Cedric schien ehrlich besorgt, dass sie ihn versetzen könnte.
«Natürlich. Vielleicht weiß ich dann schon mehr über Beatrix.»
«Das müssen Sie mir dann unbedingt erzählen.»
Als sie sich auf den Weg machte, lächelte Amelie. Du brauchst Michael gar nicht, dachte sie zufrieden. Mit Cedric kannst du dich genauso gut über dein Buch unterhalten.
Zugegeben, er hatte nicht so viel Ahnung von der Materie, und das Thema war für ihn im ersten Moment eher befremdlich gewesen, aber sie hatte schnell
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