Der vergessene Strand
schließen. Cedric reichte für den Anfang.
Sie ging noch einmal ihre Notizen durch, aber für heute war sie zu müde, um sich noch länger mit Beatrix zu beschäftigen.
Weil sie keinen Wecker hatte, beschloss sie, sich um sieben Uhr vom Smartphone wecken zu lassen. Sie merkte erst jetzt, dass sie lange nicht mehr daraufgeschaut hatte. In der Zwischenzeit waren ein Dutzend Anrufe in Abwesenheit eingegangen (drei von ihrer Mutter, der Rest von Michael), und auf ihrer Mailbox waren zwei Nachrichten gespeichert. Sie überlegte kurz, ob sie sie sich anhören oder sie sofort löschen sollte. Letzteres wäre sicher besser für ihre Ruhe.
Schließlich hörte sie die Nachrichten doch ab. «Neugier ist der Katze Tod», murmelte sie, während sie sich in die Mailbox einwählte.
«Amelie? Hallo, hier ist Michael.» Sie lächelte schwach. Er klang irgendwie … bedrückt. «Aber das kannst du dir sicher schon denken. Bitte, Amelie. Ich … ruf mich an. Bitte. Ich muss mit dir reden.» Klick.
Netter Versuch, dachte sie zynisch.
«Amelie, ich bin’s noch mal.» Diesmal klang er gefasster, als habe er sich vorher überlegt, was er sagen wollte. «Hör mal, ich … Also, ich muss mich wohl entschuldigen. Dass ich dich so bedrängt habe. Ich würde dich gern ein bisschen in Ruhe lassen, damit du wieder zu dir findest und … damit du wieder zurückkommst.» Er klang jetzt sehr kleinlaut. «Meinst du, wir können noch mal miteinander reden? Ruf mich bitte an, Amelie. Ich vermisse dich. Und das mit Sabina hab ich geklärt. Wirklich. Ich muss natürlich für das Kind bezahlen, aber das ist mir egal. Ich will nicht mit ihr zusammen sein. Ich will mit
dir
eine Familie gründen, Amelie. Das wollte ich schon immer.» Stille, dann das Klicken.
Sie hockte auf dem Bett. Michael klang ehrlich, aber das musste nichts heißen. Beim letzten Mal hatte er auch ehrlich geklungen, als er ihr versicherte, das mit Sabina sei ein für alle Mal vorbei, sie müsse von der Seite nichts mehr befürchten
Sie wollte gerade aufstehen und ins Bad gehen, als ihr übel wurde. Sie stürzte zum Klo, schaffte es gerade noch, den Deckel hochzuheben, und erbrach das Abendessen. Sie sank erschöpft neben dem Klo auf den Fußboden und spülte. Was war denn das? Vertrug sie die gute Hausmannskost von Mrs. Rowles nicht?
Oder war ihr von ihrer eigenen Dummheit übel? Von Michaels Versuchen, sie wieder für sich zu gewinnen?
Sie spülte den Mund mit Wasser aus, putzte sich die Zähne und kroch danach ins Bett. Beim Versuch, ein paar Seiten zu lesen, tanzten die Buchstaben vor ihren Augen. Also gab sie es bald auf und löschte das Licht.
Kurz bevor sie einschlief, sah sie die blaue Tür wieder vor sich, in all ihrer früheren Pracht. Die Tür ging auf. Aber ehe Amelie das Haus betreten konnte, verschwand das Traumbild, und sie schlief tatsächlich ein.
Morgen geh ich wieder hin, beschloss sie.
Am nächsten Morgen hatte sie den Gedanken schon wieder vergessen.
In den nächsten Tagen entwickelte Amelie eine gewisse Routine: aufstehen, frühstücken, zur Bücherei wandern und sich dort bis zum Mittagessen vergraben. Dann mit Cedric – «Wenn Sie mich noch einmal Mr. Tewdwr nennen, nehme ich Ihnen den Ausweis wieder weg!» – zum Mittagessen zu Mathilda und nach dem obligatorischen Kaffee nebst Macaron noch ein bisschen durch den Ort spazieren, ehe sie weiterarbeitete. Dann zurück ins Hotel, wo Mrs. Rowles schon wartete und sich nach ihren Wünschen zum Abendessen erkundigte. Anschließend in ihrem Zimmer die Nachrichten auf der Mailbox abhören, von denen ihr immer noch regelmäßig schlecht wurde, auch wenn sie sich nicht jedes Mal übergeben musste. Danach ein paar Seiten lesen und erschöpft einschlafen.
Sie wusste gar nicht, ob es ihr gut- oder schlechtging. Wenn sie darüber nachdachte, ging es ihr so gut, dass sie schlafen und essen konnte, und so schlecht, dass es ihren Schlaf und ihren Appetit störte.
Diana am anderen Ende der Welt schrieb oft Textnachrichten, und in ihren E-Mails fragte sie jedes Mal besorgt, ob sie nicht doch heimkommen solle.
Sie würde das schon schaffen, antwortete Amelie jedes Mal automatisch, obwohl sie nicht so sicher war, was «das» eigentlich war. Die Trennung von Michael? Seine ständigen Anrufe? Erst langsam dämmerte ihr, dass er sie regelrecht verfolgte. Und das machte sie so wütend, dass sie ihn noch am selben Abend anrief.
Er war nach dem zweiten Klingeln dran, und sie stellte sich vor, wie er den ganzen
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