Der vergessene Strand
ich würde einen reichen Kaufmann heiraten. Allenfalls den nachgeborenen Sohn eines kleinen Landadeligen, mit viel Glück. Wir sind nicht besonders reich, und mir hätte das auch genügt, solange dieser Mann mir gewisse Freiheiten zugesteht.»
Was sie mit diesen Freiheiten meinte, wusste Anne, denn Bee sprach von kaum etwas anderem.
Sie war beseelt von der Kraft der Literatur. Jedes Mal, wenn sie in London waren, schwärmte Bee von den literarischen Salons, und manchmal bettelte sie so lange, bis Maman ihr erlaubte, einen zu besuchen. Doch meist war Beatrix enttäuscht davon – es handelte sich um rein weibliche Salons, bei denen nicht diskutiert, sondern allenfalls geplaudert wurde.
Wenn sie verheiratet war, wollte sie einen eigenen Salon gründen. Einen, in dem niemand sich auf die Zunge biss, in dem jeder sagen durfte, was er dachte. Wo Männer und Frauen diskutierten, wo jeder willkommen war, der etwas zu sagen hatte.
«Jetzt hat sich aber Trisk für mich erwärmt.» Sie lächelte ihr geheimnisvolles Lächeln, das Anne seit der Verlobungsfeier kannte und so recht nicht verstand. War es wirklich so besonders, wenn man verlobt war? «Er lässt mir Platz, und er ist sehr wohlhabend.»
«Paps hat gesagt, er ist schweinereich. Hat er viel Vieh?»
«Ach, Dummerchen. Das sagt man doch nur so.» Bee kniff sie in die Wange. «Aber es stimmt, er hat viel Geld. Meine Aussteuer ist ebenso unnötig wie meine kleine Mitgift. Er nimmt mich um meiner selbst willen. Und für dich ist das sowieso das Allerbeste. Was meinst du, wie sich in fünf Jahren die Männer darum reißen werden, Schwager des Earl of Hartford zu werden!»
«Ich will aber einen, der mich will, und nicht deinen komischen Trisk zum Schwager», protestierte Anne bockig. «Ich will einen, der mich lieb hat.»
Beatrix wirkte seltsam nachdenklich. «Den bekommst du auch», versprach sie schließlich.
Doch Anne kannte ihre Schwester. Ihr Zögern war ihr nicht entgangen.
«Er hat dich doch lieb? Dein Trisk?»
Bee lachte. «Natürlich, Bumble. Es gibt keinen, der mich lieber hat als er.»
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Kapitel 5
N ichts passierte.
Nicht mal ein Klingeln erklang im Hausinnern. Alles blieb still bis auf das ferne Rauschen des Verkehrs auf der Hauptstraße.
Amelie drückte noch einmal auf die Klingel, diesmal länger.
Wieder nichts. Sie zögerte. Entweder die Klingel war abgeklemmt – dann gab es sicher einen guten Grund dafür –, oder der Strom im Haus war abgestellt und das Haus unbewohnt.
Sie trat beiseite und spähte durch das Fenster links neben der Tür. Dahinter lag die Küche. Sie konnte im schwachen Licht eine Küchenzeile erkennen, einen Tisch mit zwei Stühlen. Eine Kaffeemaschine, die noch lief. Das orangefarbene Leuchten war gut sichtbar und die Glaskanne noch halb voll.
Sie kehrte zur Tür zurück und wollte eigentlich gehen. Doch es gab da noch einen Türklopfer, einen Wasserspeierkopf mit Ring. Wenn sie nur einmal ganz vorsichtig klopfte?
Aber was erhoffte sie sich davon? Was sollte sie den Bewohnern dieses Hauses sagen?
Guten Tag, ich kam grad vorbei, und da hat mich Ihre blaue Tür so angesprochen. Die sah bestimmt auch mal besser aus.
Unsinn.
Trotzdem hob sie den Türklopfer und ließ ihn zweimal gegen die Tür fallen. Tok-tok.
Drinnen blieb es still. Sie wandte sich zum Gehen.
Zurück in der Bücherei, widmete sie sich wieder ihren Büchern. Sie machte sich Notizen und trug die Bände anschließend zurück zu den Regalen. Aber sie war nicht zufrieden. Irgendetwas fehlte. Irgendetwas hatte sich seit dem Morgen geändert, und sie wurde das unangenehme Gefühl nicht los, auf einem Auge blind zu sein.
Wie gerne hätte sie jetzt mit Michael gesprochen! Als Diskussionspartner war er einfach unschlagbar.
Ob wir irgendwann wieder ganz normal miteinander reden können?, überlegte sie. Wie zwei erwachsene Menschen, die vor allem ihre Arbeit verbindet?
Im Moment schien das unvorstellbar.
Am späten Nachmittag schloss Mr. Tewdwr die Bücherei. Er stellte ihr noch einen Ausweis aus, und sie nahm sich für den Abend zwei Bücher mit – einen Krimi, den er ihr empfahl, und «Wuthering Heights» von Emily Brontë. Sie hatte «Sturmhöhe» seit Jahren nicht gelesen und hatte richtig Lust darauf.
Zurück in dem kleinen Hotel, aß sie zu Abend und zog sich dann in ihr Zimmer zurück. Mrs. Rowles ließ sie während des Essens in Ruhe, und das war Amelie nur recht. Sie war schließlich nicht hier, um Freundschaften zu
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