Der vergessene Strand
morgen zu der Frau fahren, die er wiederum liebte. Das durfte er natürlich nicht, denn dann würde er sich noch mehr in die Frau verlieben, die er liebte. Er durfte nicht mit sich ringen. Also musste sie kämpfen. Mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln.
«Sie hat heute Nacht Blutungen bekommen und musste ins Krankenhaus.» Er klang resigniert, als wüsste er selbst nicht so genau, ob das gespielt war oder nicht. Als zweifelte er an der Geschichte, ließ sie aber gewähren, weil er um das Leben des Kindes fürchtete, und ja: weil er nicht sicher war, ob Amelie wirklich zu ihm zurückkam. Eine Nacht im Wartebereich einer Notaufnahme bot viel Zeit zum Nachdenken.
«Dann musst du natürlich bei ihr bleiben», sagte sie sanft. Ganz leise. «Kümmer dich um sie.»
Sie legte auf und blieb stehen. Cedric lief ein Stück voraus, blieb dann ebenfalls stehen.
Die Reisetasche wurde ihr zu schwer. Er kam nicht. Er ließ sie allein. Wieder einmal fühlte sie sich von ihm im Stich gelassen.
Die Tasche polterte zu Boden, und sie drehte den Kopf weg. Der Wind war heute beißend und salzig, er trieb die Tränen aus ihren Augen. Hastig wischte sie sie fort. Verdammt, hatte sie wirklich geglaubt, alles werde sich ändern mit dem Kind?
Und jetzt fragte sie sich wieder, ob sie das überhaupt wollte. Oder ob sie ohne ihn nicht besser dran wäre.
«Alles in Ordnung?», fragte Cedric.
«Alles bestens», behauptete sie.
Leider stand sie schon kurz darauf vor dem nächsten Problem. Mathilda hatte zwar ein Zimmer, aber nur für die eine Nacht. Danach war auch sie ausgebucht. Das, was da stattfinden sollte am kommenden Wochenende – ein walisischer Sängerwettbewerb, wenn Amelie das richtig verstand –, belegte alle Hotelbetten im Umkreis von zwanzig Kilometern.
«Und wie lange dauert dieses Sängerfest?» Wenn es über drei Tage ginge, könnte sie nach London fliehen. Dort gab es bestimmt genug Bibliotheken, in denen sie sich vergraben konnte.
«Zehn Tage.»
Zehn Tage waren zu lang. Sie sackte auf den Stuhl, schob mit dem Fuß die Reisetasche unter den Tisch und schloss müde die Augen. Zehn Tage – da konnte sie auch gleich nach Hause zurückfahren.
Mathilda servierte Eintopf, und sie blieb stehen und plauderte ein wenig mit Cedric, der sie anstrahlte. Beide schienen gar nicht zu bemerken, dass es ihr schlechtging.
«Bleibst du die eine Nacht?», fragte Mathilda zum Abschied, und Amelie nickte. Ja, das musste sie wohl, sonst hatte sie ja nichts, wo sie hinkonnte.
Was sie morgen tun würde, wusste sie nicht. Vielleicht fuhr sie wirklich heim oder nach London, obwohl sie ihre Arbeit längst nicht beendet hatte.
Der Nachmittag verlief schleppend wie alle Nachmittage der letzten Zeit. Amelie war müde, und die Vorstellung, bei Mathilda in ein frischbezogenes, kühles Bett zu schlüpfen und bis zum nächsten Morgen zu schlafen, war sehr verlockend.
Aber zugleich drohte auch der Abschied von Pembroke, und darauf wollte sie vorbereitet sein. Sollte sie für einige Zeit das Weite suchen müssen, konnte sie zumindest so viele Dokumente wie möglich mitnehmen. Also kopierte sie an diesem Nachmittag die wichtigsten Passagen aus den wichtigsten Büchern.
Natürlich wurde ihr von dem warmen Geruch des Kopierertoners schlecht. Sie machte mehrmals eine Pause, ging vor die Tür, atmete tief durch und genehmigte sich einen der verboten köstlichen Ingwerkekse, die Cedric ihr mitgebracht hatte. Danach ging es immer wieder für ein Weilchen, aber allzu schnell wurde ihr erneut flau.
Als sie wieder einmal auf der Bordsteinkante vor der Bibliothek saß, klingelte ihr Handy.
Michael.
Sie hatte keine Lust, mit ihm zu reden, und drückte ihn weg. Danach schaltete sie das Handy aus, stand langsam auf und schlich wieder in die Bibliothek.
Am Abend packte sie alles zusammen und verabschiedete sich von Cedric, der sich verlegen am Kopf kratzte. «Ich würde Sie ja zu uns einladen, aber meine Frau hat es nicht so mit Fremden. Es würde sie aufregen.»
«Ist schon gut. Ich komme bestimmt wieder. In ein paar Wochen, wenn keine walisischen Sänger mehr hier sind.»
Er grinste. «Das Sängerfest ist sehr beliebt, es wird schon seit über hundert Jahren abgehalten. Vielleicht hat’s Ihre Miss Lambton damals auch mal miterlebt.»
«Ganz bestimmt.» Es fiel Amelie sehr schwer, jetzt schon zu gehen. Daheim in Deutschland erwarteten sie nur Probleme. Aber für einen längeren Aufenthalt in London reichte ihr Geld ebenso wenig wie für
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